image by 123rf @2020
Die Pandemie-Krise als Labor zum Überdenken der Mobilität
Der öffentliche Personennahverkehr und COVID19Die Auswirkung der Eindämmungsmaßnahmen auf das Verkehrswesen
-95% ! Das ist die Auswirkung, die die Notmaßnahmen der italienischen Regierung in der ersten Phase der COVID19-Epidemie auf die Passagierzahl im öffentlichen Verkehr hatten [1]
Andererseits konnte die Auswirkung zu einem Zeitpunkt mit komplettem Lockdown auch nicht anders sein, und Italien war das Land, das die längste Quarantäne verhängt hatte: 70 Tage, 85 Tage für Tätigkeiten, die als besonders risikoreich betrachtet wurden.

Die soziale Distanzierung hat den öffentlichen Verkehr in Sachen Wahrnehmung als unrein gebrandmarkt: ein Gefühl, das langsam abflaut, sich jedoch erneut einstellen könnte, falls es zu einer neuen Epidemiewelle kommen sollte (Image by 123rf @2020)
Once quarantine was over, Phase 2, according to the provisions of the Prime Ministerial Decree of 26 April, and the (many) subsequent amendments, for transport meant maintaining a distance of at least 1.5 metres between passengers, effectively a net reduction of 70% in transport capacity.
In the following weeks, the regulations on the use of means of public transport were slowly eased – the minimum distance indicated as being safe was reduced to 1 metre and, in the middle of June, ASSTRA
Nach Beendigung der Quarantäne drückt sich Phase 2 für das Transportwesen gemäß den Bestimmungen der Verordnung des Ministerpräsidenten (DPCM) vom 26. April – und den darauf folgenden (zahlreichen) Änderungen – in der Einhaltung eines Abstandes von mindestens 1,5 Metern zwischen den Passagieren aus: de facto eine Nettoreduzierung der Transportkapazität um 70%.
In den darauf folgenden Wochen werden die Normen für die Benutzung der Verkehrsmittel langsam gelockert: Der angegebene Mindestsicherheitsabstand wird auf 1 Meter reduziert und der italienische Transportverband ASSTRA [2] beantragt die Aufhebung der Distanzierungsmaßnahmen ab Mitte Juni, natürlich sofern es die epidemiologischen Bedingungen erlauben. Die autonomen Provinzen Trient und Bozen gestatten als erste den erneuten Zugang zu allen verfügbaren Plätzen in den Verkehrsmitteln. Ihnen folgen [3] Venetien, Ligurien, Emilia-Romagna und Sizilien. Auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Beförderung auf dem Landweg wird nichts anderes getan, als der Lockerung der Distanzierungsmaßnahmen zu folgen, die bei der Luftbeförderung angewendet werden. Hier wurde von Anfang an die Hypothese abgelehnt, alle zwei belegten Reihen mindestens eine Reihe freizulassen. Eine Maßnahme, die die Reise mit einem Flugzeug in finanzieller Hinsicht de facto untragbar gemacht hätte.
Auf dem gesamten Beförderungssektor lastet jedoch das Gewicht des Passagierverlustes, und abgesehen von den Entscheidungen, die eng mit der sozialen Distanzierung zusammenhängen, hat sich eine Reihe von Faktoren als Rahmenbedingungen aktiviert, die die Entscheidungen konditionieren:
1) Der Erdölpreis hat seinen historischen Tiefstand erreicht.
Finanzielle Auswirkung: Im Monat Mai weisen die WTI-Futures [4] einen negativen Preis auf: einfach ausgedrückt haben die Vorräte die historischen Höchstwerte erreicht und die Produzenten sind zum Verkauf zu Schleuderpreisen bereit, nur um ihre Lager zu leeren.
Geopolitische Auswirkung: Das Königreich Saudi-Arabien war gezwungen, die MwSt ab dem Monat Juli von 5 auf 15% zu erhöhen, indem die Beihilfen für die Bürger – zum ersten Mal, seit das Land Erdölexporteur ist – in dem Versuch blockiert wurden, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, um die Spreizung des staatlichen Finanzdefizits einzudämmen.
Lokale Auswirkung: Die öffentlichen Beförderungsunternehmen haben die Aussetzung der Pflichten zum Kauf umweltfreundlicher Verkehrsmittel laut Dekret MIT-MEF-MISE vom 19. Dezember 2019 zur Ausführung des nationalen Strategieplans für nachhaltige Mobilität (PSNMS) beantragt.
2) Für das BIP 2020 ist eine Kontraktion von 6-8% respektive für Deutschland und Frankreich, und zwischen 8 und 11,2% für Italien vorgesehen. [siehe Fußnoten 5 und 6]
Mit den besten wirtschaftlichen Prognosen, die „nur” von einer teilweisen Erholung sprechen, wird das BIP 2021+4/6% verzeichnen.

Die Kräfteverhältnisse im Bereich der Mobilität stellen einen Faktor dar, der alles andere als unbedeutend ist
Der ÖPNV-Sektor büßt in Italien pro Monat 130 Millionen ein: Für das Jahr 2020 ist eine zusätzliche Bereitstellung von 2 Milliarden im Verhältnis zu dem im Wirtschafts- und Finanzdokument (DEF) vorgesehenen Betrag notwendig.
Der Automotive-Sektor erleidet einen Einbruch von 98%: Die Hersteller verlangen einen Auto-Rettungsfonds in der Höhe von 3 Milliarden sowie eine Revidierung des geltenden Ökobonus durch die Einführung einer dritten Klasse (61-95 g/km CO2-Emissionen) und eine Erhöhung der Pauschalanreize für die zweite Klasse (21-60 g/km CO2-Emissionen) mit Ausdehnung des Fonds auf das Jahr 2021.
Die Dimensionen, die vom privaten und vom öffentlichen Mobilitätssektor insgesamt erreicht wurden, sind Faktoren, die bei der Festlegung einer Agenda für den Neustart nicht außer Acht zu lassen sind. Vor allem aber bei der Aufteilung der Ressourcen, um das in diesen Monaten eingebüßte Terrain wieder wettzumachen.
Innovation (cum grano salis) und Resilienz
Die erste Lektion, die die COVID19-Epidemie erteilt hat, besteht darin, dass der öffentliche Verkehr modulierbarer und anpassungsfähiger werden muss. Dies betrifft sowohl die außerordentlichen Phasen – wie die, die wir gerade erleben – als auch die normalen Phasen: Man bedenke die Tatsache, dass die einzige Antwort auf die wöchentliche und saisonale quantitative und qualitative Fahrtennachfrage ausschließlich in der Neumodulierung der Frequenzen besteht. Da der öffentliche Personennahverkehr zwischen dem offensichtlichen Bedürfnis der Kosteneindämmung vermitteln muss, befindet er sich stets in der Zwickmühle zwischen einem ewig unterdimensionierten Angebot zu den Stoßzeiten an Werktagen und einem redundanten Dienst (indem leere Plätze-km bezahlt werden) zu den schwächeren Zeiten sowie an Sonn- und Feiertagen, der im Verhältnis zu den unterschiedlichen Bedürfnissen der Benutzer immer und auf jeden Fall wenig attraktiv ist.
Aus den „Alles-oder-Nichts”-Modellen des Urban Mobility Lab des MIT in Boston wissen wir, dass der vollkommene Ersatz des öffentlichen Personennahverkehrs (und des Privatverkehrs) in einer Business-as-usual Situation durch Flotten selbstfahrender Fahrzeuge einerseits zu einer drastischen Reduzierung der Unfälle führen würde, andererseits jedoch zu einem Anstieg der im Umlauf befindlichen Fahrzeuge um einen Faktor, der zwischen 10 und 20% liegt. Auf vollkommen natürliche Weise wird sich erneut das Bedürfnis einstellen, die Kapazität der Strecken mit dem höchsten Verkehrsaufkommen zu erhöhen, indem man zu gemeinsam genutzten Straßenverläufen zurückkehrt: Es wird sich das Bedürfnis ergeben, den Energieverbrauch und die Auswirkung der Mobilität einzudämmen sowie den Raum und somit die Straßen besser zu nutzen. Der öffentliche Verkehr stellt ein natürliches Bedürfnis dar und wird daher weiterhin Zukunft haben [7]: aber in welcher Form?
Es wird notwendigerweise ein öffentlicher Verkehr sein, der sich von dem, an den wir gewöhnt sind, unterscheidet, und die Erfahrung mit COVID19 sagt uns, dass wir die Zeiten für diese Umwandlung vorwegnehmen müssen. Die Herausforderung besteht in der Planung eines Dienstleistungsangebots, das in der Lage ist, sich an unterschiedliche operative Szenarien anzupassen, sowohl an normale (Werktage, Sonn- und Feiertage, außerschulische Zeiträume, Großdemonstrationen) als auch an außerordentliche (Epidemien wie die derzeitige, aber auch plötzliche Schwankungen der Kraftstoffpreise mit Anstieg der Nachfrage nach gemeinsam genutzten Verkehrsmitteln, widrige Witterungs- und Klimabedingungen usw.). Diesen Szenarien muss eine Neumodulierung des Dienstes entsprechen, die auch in physischer Hinsicht zu erfolgen hat:
- Vorübergehende Neumodulierung der Straße über das Fernkontrollsystem der Fahrt und die Kontrolle der Verampelung (eine eigene „immaterielle“ Fahrspur);
- Neumodulierung des Dienstes mit der Einrichtung „gesperrter“ Fahrten auf den Strecken mit der stärksten Nachfrage, die den Benutzern über die Informationssysteme an den Haltestellen und per Fernkommunikation über die jeweilige Marken-App zur Kundenbindung in Echtzeit bekanntgegeben werden;
- Umgestaltung der Innenausstattung der Fahrzeuge – die flexibel sein muss – mit der Möglichkeit, die Verbindungsräume zu erweitern.

Anregungen zur Reflexion über eine unterschiedliche Ausstattung im öffentlichen Verkehrsmittel, die distanzierungstauglich ist
Krisenmomente haben stets zwei Seiten: jene schwierige Seite der zufälligen Umstände aber auch die Hoffnung auf einen Wandel. Da diese zum Anziehen der Handbremse in Bezug auf das Business-as-usual-Verhalten zwingen, halten sie in ihrem Kern den Samen der Reflexion bereit: Wenn er genährt wird, kann aus ihm eine – sicher alles andere als einfache – Konfrontation erblühen, um Entwicklungsmodelle aufzubauen, die weniger dystopisch sind als die vor der Krise [8]. Modelle, die die Krise im Grunde – mehr oder weniger direkt – erzeugt haben.
Wir haben einige Paradigmen – die zu technischen Lösungen geführt haben, die jetzt Probleme hervorrufen, an die wir nicht gedacht haben – als selbstverständlich angesehen. Beispielsweise hat die Suche nach Zugänglichkeit zur Verwendung von Niederfluraufbauten geführt, durch die die Autobusse zu einer komprimierten und oft verschachtelten Architektur (der Motoren) gezwungen werden, die eine konstante und sorgfältige Wartung erfordert. Hieraus ergab sich ein höheres Brandrisiko wegen der abgelagerten Fette an Stellen, die man nicht erreicht, und wenn dann nur mit mechanischen Armen für die ordentliche Reinigung, die anfangs von Hand erfolgte, sowie eine Reduzierung der Nutzfläche an Bord.
Ergebnis: ein alter Inbus 201 hatte kleine Stufen für den Ein- und Ausstieg und 92 effektive Plätze (wobei 4 Passagiere pro Quadratmeter gezählt wurden). Ein moderner städtischer Niederflurbus mit 12 Metern Länge weist 25% weniger Öffnungen zum Aus- und Einsteigen und 75 effektive Plätze auf (etwa -20%). Gemäß der Leitlinien des Ministeriums für sicheren Transport in Phase 2 hätte ein Inbus 201 25 Personen transportieren können, ein moderner Autobus 15 (-40%). Weiteres Thema: der alte Inbus garantierte bei geöffneten Fenstern einen natürlichen Luftaustausch von etwa 0,30-0,50 mc/Minute (bei voller Belegung). Ein moderner Autobus hat große versiegelte Glasflächen, verbraucht 15% mehr für die Luftaufbereitungsanlage und hat in diesem Moment ein Problem, da zur Vermeidung der Stagnation des SARS-CoV-2-Virus, die eventuell in einem geschlossenen Raum vorliegt, ein korrekter und konstanter Luftaustausch von außen her notwendig ist.

Der öffentliche Verkehr hat Zukunft, er muss jedoch beweisen, sicher, einladend und – nicht zu guter Letzt – attraktiv zu sein (image by 123rf @2020)
Anregungen für die Zukunft
Der vom neuen Coronavirus hervorgerufene Notstand stellt die Widerstandsfähigkeit der lokalen Mobilitätssysteme auf eine harte Probe. Das gilt sowohl für die großen europäischen Metropolen mit Weitblick als auch für die kleineren italienischen Städte. Schließlich werden die Städte mit einer Governance, die bereits vorher in der Lage war, eine Vision zu schaffen, als erste aus dieser Situation herauskommen. Planung und Programmierung sind die einzigen Elemente, die imstande sind, eine Resilienz zu schaffen, der es gelingt, sowohl die strukturellen Schwächen in Angriff zu nehmen, die für viele italienischen Städte typisch sind, als auch die Herausforderungen einer Welt, die immer komplizierter wird: Vom COVID19 zu den Nachfragen eines globalen Marktes, der die alte Konfrontation zwischen den Staaten in eine Koinè von Städten verwandelt hat, die seit Ewigkeiten im gegenseitigen Wettbewerb stehen, um sich als attraktivster Ort für die Eröffnung eines neuen Verwaltungssitzes, einer neuen Verkaufsstelle oder eines neuen Forschungszentrums zu präsentieren.
In diesem Sinne kann Phase 2 als Vorwegnahme der Zukunft interpretiert werden: Müssen wir die Rückkehr zur üblichen Mobilität abwarten, die mit zwei untragbaren Stoßzeiten und ebenso vielen schwachen, unrentablen Phasen verbunden ist, oder können wir eine Mobilität strukturieren, die auf der gegenseitigen Ergänzung der Fahrpläne basiert? Müssen wir alle überallhin fahren oder uns auch in Italien einen „Plan-15“ vorstellen wie den, den Anne Hidalgo für Paris vorgeschlagen hat und der vorsieht, dass die wesentlichen öffentlichen Dienstleistungen für alle Bewohner binnen 15 Geh- oder Radminuten erreichbar sind.
Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich die (vergessene) Stadtplanung wieder die Instrumente für die Verkehrsplanung aneignen muss. Und nachdem Italien seit 1942 auf ein neues Stadtplanungsgesetz [9] wartet, ist es jetzt nicht mehr als angebracht, zu sagen „wenn nicht jetzt, wann dann?“?
Fußnoten
[1] Siehe diesbezüglich die von Google bzw Apple verfügbar gemachten FCD-Daten
[3] Die aktualisierte Situation der regionalen Anordnungen
[4] Das West Texas Intermediate oder Texas Light Sweet, ist die in Texas produzierte Erdölsorte, die als Benchmark zur Festlegung des Erdölpreises auf dem Future-Markt der New Yorker Börse verwendet wird.
[5] Schätzung des italienischen Statistikamtes Istat für Juni
[6] Schätzung der Europäischen Kommission für July
[7] Eine Frage, die für viele alles andere als rhetorisch ist und die sich viele stellen. In den Vereinigten Staaten entstehen sogar Gruppen, die sich für die Aussetzung von Straßenbahn- und U-Bahn-Projekten zugunsten von Förderungen für die Autos der Zukunft einsetzen.
[8] Ein einleuchtendes Beispiel: der planetarische Lockdown (Anthropause) könnte der größte Akt des Artenschutzes gewesen sein, der jemals vom Menschen erbracht wurde, dank dem Millionen oder vielleicht sogar Milliarden von Tieren gerettet wurden. Es wird geschätzt, dass allein in Nordamerika jeden Tag etwa eine Million Tiere auf den Straßen getötet werden.
[9] Besser: Gebietsverwaltungsgesetz.
