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Aktuelle Perspektiven und zukünftige Szenarien für die globalen Städte
Inwieweit verändert der Urbanisierungsprozess unsere Welt?Mobilität und Migrationsflüsse, Klimawandel und digitale Revolution stehen in Verbindung mit den Themen wirtschaftliche Entwicklung und Ausbau der Infrastrukturnetze im Mittelpunkt der Agenda der großen internationalen Organisationen sowie der Verwaltungspolitiken der sogenannten Globalen Städte. Letztere befinden sich nämlich immer mehr auf überörtlicher Ebene im Wettbewerb, indem sie mit den großen internationalen Playern Dialog führen und als primäre Knotenpunkte eines mittlerweile globalisierten Produktionssystems dienen.
Was hält die Zukunft für die globale Rolle der Städte bereit?
Wir haben darüber mit Tobia Zevi gesprochen, Associate Research Fellow und Verantwortlicher des Global Cities-Programms des ISPI (Institut für Studien der Internationalen Politik) sowie Global Fellow Eisenhower im Jahre 2019.
FLOWS:
Der Titel des letzten Berichts, den Sie für das ISPI betreut haben, lautet „The Century of Global Cities: How Urbanisation Is Changing the World and Shaping our Future”. Was versteht man unter „Globalen Städten”? Welche Faktoren führen zur Entstehung einer „Global City”? Welche Transformationsprozesse beeinflussen die Entwicklung einer Stadt am meisten und machen sie wirklich „global”?
Tobia Zevi:
Der Begriff globale Stadt wurde de facto im Jahre 1991 von der in Holland geborenen amerikanischen Soziologin Saskia Sassen kodifiziert. In ihrem Buch „Die globale Stadt“ schuf Sassen diesen Begriff in Bezug auf die Städte New York, London und Tokio. Sie erklärte, wie in einer immer globalisierteren Wirtschaft die Notwendigkeit besteht, einige Direktions- und Vermittlungsfunktionen in einigen Hubs zu konzentrieren (denken wir nur an Großbanken, Versicherungsgesellschaften, Dienstleistungsgesellschaften usw.), die oft innerhalb des gleichen globalen Netzes je nach Funktion differenziert sind, wo sich Personen mit starken Kompetenzen und Spezialisierungen physisch treffen und zusammenarbeiten. Im Gegensatz zu dem, was in den 70er Jahren passierte, als die Direktionszentren aus den städtischen Kontexten verbannt wurden – und die Downtowns sich leerten, mit New York und London, die im darauf folgenden Jahrzehnt sogar bankrott gingen – wird ab Ende der 80er Jahre eine Wiedergeburt der Städte und eine Rückkehr in die Städte verzeichnet. Nichts kann nämlich den Kontakt zwischen den Menschen zu 100 % ersetzen, auch nicht in den digitalisiertesten und finanziarisiertesten Wirtschaftssystemen: direkt und einfach miteinander sprechen zu können, steigert die berufliche Effizienz. In diesen schrecklichen Stunden des Coronavirus denke ich, dass sich jeder persönlich davon überzeugen kann: Homeworking ist sehr nützlich, aber auch sehr komplex, wenn man sich dabei nie in die Augen sehen kann!
Neben den Führungskräften, Managern und Angestellten, die in den großen Firmen tätig sind, konzentriert sich in diesen Städten aber auch ein zweites gesellschaftliches Segment, das aus jenen weniger qualifizierten Arbeitern gemacht ist, die Dienstleistungsfunktionen für die wohlhabenderen Klassen erbringen und eben aus diesem Grund dazu tendieren, sich an den gleichen Orten zu konzentrieren, an denen die Exponenten der Upper Class leben und arbeiten. Kinderbetreuung, Altenpflege, Reinigung von Wohnungen und Büros, mit der Logistik verbundene Berufe, um nur einige Beispiele zu nennen.
Neben dieser sozioökonomischen Analyse wird heute auch über die geopolitische Rolle der Städte nachgedacht. Sie haben nämlich ein immer stärkeres Gewicht, wenn es um die großen globalen Fragen geht – denken wir nur an die Wirtschaft, aber auch an den Energieverbrauch, die Abfallproduktion oder allgemeiner an den Umweltschutz – und durch die Erweiterung ihres Einflusses fordern sie die nationalen Staaten heraus, die feststellen, dass sie nicht mehr die einzigen Hauptdarsteller der internationalen Politik sind. Wie der indisch-amerikanische Wissenschaftler Parag Khanna erklärt hat, und andere vor und nach ihm, werden die Staaten auf drei Ebenen herausgefordert: von unten her durch die Stadtsysteme, über die wir hier sprechen; von oben her durch die internationalen und multilateralen Organisationen (man denke an die Europäische Union), die sich, wenn auch unter tausend Schwierigkeiten und Widersprüchen, nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt haben; von oben aber auch von der Seite her durch die multinationalen Unternehmen, die sich auf einem vollkommen globalen Schachbrett bewegen, dabei nationale Vorschriften und Einschränkungen übergehen, indem sie an mehreren Tischen spielen und sich den Staaten in Sachen Besteuerung, Daten, industrielle Beziehungen und sonstige Aspekte widersetzen.
Kommen wir nun auf die Rolle der Städte zurück, dann geht es hierbei um einen Prozess, der Entwicklungen und Rückschritte, positive und negative Aspekte aufweisen kann, die jedoch im umfangreicheren Rahmen der geopolitischen und internationalen Transformationen interpretiert werden muss.
RF: Welche Rolle spielen die globalen Migrationsflüsse bei der Festlegung der Agenda für die Entwicklung der großen Metropolregionen in einem Zeitalter, das durch reichsbürgerliche Strömungen und Radikalisierungsphänomene der politischen Konfrontation gekennzeichnet ist?
TZ: Es gibt eine bidirektionale Beziehung zwischen Stadt und Migranten, bei der sich die Pole gegenseitig brauchen: Die Migranten kommen in die Städte, weil sie gemeinschaftliche soziale Netzwerke und Arbeitsmöglichkeiten benötigen, die sie in den ländlichen Gebieten nur schwerlich anstreben können. Parallel dazu benötigen die städtischen Bereiche die Migranten zur Durchführung zahlreicher Aufgaben, die oft zu den niedrigsten und für das Funktionieren der Gemeinschaft unerlässlichsten Arbeiten zählen, aber auch aufgrund des Einfallsreichtums, den normalerweise derjenige zutage legt, der sich sein Leben an einem Ort neu aufbaut, der nicht sein Geburtsort ist.
Man darf nicht vergessen, dass wir, wenn wir von Migration sprechen, vor allem auf Ebene der Städte nicht nur an Menschen denken, die vor Krieg und Armut flüchten. Wir denken auch an Universitätsstudenten oder kreative Gesellschaftsklassen, die einen Ortswechsel vornehmen, weil sie die Wahl haben: der Reichtum der Städte liegt auch in ihrer Fähigkeit, unterschiedliche Talente anzuziehen. Unter diesem Gesichtspunkt können wir heute auf New York, Paris oder London Bezug nehmen, es handelt sich jedoch um ein antikes Phänomen. Historisch gesehen waren Alexandria in Ägypten oder Konstantinopel oder auch Rom reiche Städte, weil sich in ihnen unterschiedliche Kulturen trafen: eine offene Stadt ist seit jeher auch eine reiche Stadt.
Heute betrifft die Herausforderung, die Migranten zu integrieren, sicherlich unsere Städte, vor allem aber die Städte in Afrika oder in Asien – und gestern in Südamerika – wo hunderttausende Mitbürger („interne Migranten”) in städtische Kontexte flüchten, um Gesellschafts- oder Umweltkrisen zu entkommen, und dabei städtische Bereiche bevölkern, die nicht für ihre Aufnahme ausgerüstet sind.
Während der ersten industriellen Revolution haben Millionen von Menschen die ländlichen Gegenden verlassen, um in die industrialisierten Städte zu ziehen, angezogen von den Gelegenheiten, die diese boten, und trotz der oft verheerenden Arbeitsbedingungen. In den Städten des globalen Südens fehlt heute jedoch die Absorptionkapazität der Fabriken, und daher riskieren wir Millionen junger Menschen, die in Städte ziehen, die jedoch keinerlei Perspektiven aufweisen, was die gesellschaftliche Inklusion und die Behauptung in einem Beruf anbelangt.
RF: Welche Konsequenzen müssen wir uns infolge des Brexit für London erwarten, der europäischen Global City schlechthin? Und welche Wachstumschancen für andere europäische Städte?
TZ: Mein Gefühl ist, dass wir einem Paradox beiwohnen werden. Die Stadt London, die für Remain gestimmt hat, wird es nämlich nicht besonders treffen, während hingegen die ländlichen Gegenden und die peripheren Bereiche des Vereinigten Königreichts, die für den Brexit gestimmt haben, da sie sich als Opfer von Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungen wegen der Europäischen Union fühlen, Schäden erleiden werden. Mit anderen Worten werden sich die Folgen auf diejenigen auswirken, denen es bereits am schlechtesten ging und die sich in gewisser Weise mit ihren eigenen Händen ruiniert haben. Das bedeutet aber nicht – und das will ich klarstellen – dass ihre damalige Entscheidung banalisiert oder sogar verspottet werden muss.
Jenes Gefühl des Ausgeschlossenseins muss verstanden und in Angriff genommen werden. Aber ich glaube, dass die Situation so aussieht: einige große Agenturen und multinationale Unternehmen werden London verlassen und in andere Städte ziehen, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Stärke Londons ist jedoch derart groß, dass die Rolle der Stadt im Wesentlichen unverändert bleiben wird. Vergessen wir nämlich nicht, dass London zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Stadt der Welt war und zusammen mit New York von den damaligen Städten die einzige ist, die auch heute noch an der Spitze der Rangliste liegt.
RF: Welche italienischen Städte kann man zum überstaatlichen Netz der Global Cities zählen?
TZ: Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass der Fall Europa ein Sonderfall ist: Das städtische Grundgerüst des Kontinents ist durch mittelgroße Ballungsräume gekennzeichnet, und nur Paris und London können voll und ganz als globale Städte definiert werden, während andere Pole diese Rolle in einigen spezifischen Bereichen aufweisen (denken wir nur an Frankfurt, eine der globalen Städte für den Finanzsektor).
Die europäischen Städte „bemühen“ sich, global zu werden, jedoch in diesem netzwerkartigen und polyzentrischen Kontext. Man denke hierbei an Mailand, das heute einen wirtschaftlichen, kulturellen, turistischen und produktiven Boom erlebt.
Die Herausforderung für Europa und Italien besteht daher darin, es zu schaffen, dass die spezielle Besiedelungsweise, die sich aus unserer Geschichte ergibt und die aus vielen mittelgroßen Städten gemacht ist, aufgewertet wird und dass die Gebiete, die rückständig sind, aufholen können; diese Ausformung, die man sogar auf das antike Rom zurückführen kann, ist meiner Ansicht nach ein Reichtum in einer Welt, die immer mehr aus Großstädten gemacht ist.
RF: In einem Ihrer jüngsten Artikel, der auf der Website von ISPI veröffentlicht wurde, kann man eine Kritik am Konzept „Smart City“ lesen, das oft unkorrekterweise als „Marketinginstrument“ verwendet wird, um Softwareplattformen und technologische Anwendungen im Namen der Innovation zu verkaufen, jedoch häufig unabhängig von den echten Bedürfnissen der Städte. Worin bestehen die Governance-Instrumente, die uns die Überwindung des Paradigmas der „smarten“ Stadt ermöglichen, um hingegen zum Konzept der „nachhaltigen Stadt“ zu gelangen? Welche Rolle spielt die Mobilität in diesem Zusammenhang?
TZ: Wie bei allen Moden muss auch hier gut abgewogen werden: Smart City ist ein Konzept, das auf das Potenzial verweist, das Technologie und Datenerfassung bei der Planung der Stadt der Zukunft haben können. Die Möglichkeit, über innovative Instrumente zu verfügen, die es uns gestatten, unsere Städte effizienter zu machen, ist fantastisch. Denken wir beispielsweise an den Mobilitätssektor: wir stehen einer echten Revolution gegenüber, die es dem Bürger erlaubt, zahlreiche neue, witzige und umweltfreundliche Transportmittel zu erproben, und die die öffentlichen Verwaltungen – auch dank der Datennutzung – dazu zwingt, diesen Sektor wie ein echtes Ökosystem zu überdenken, das aus öffentlichen und privaten Akteuren, Konsumenten und Prosumer, Daten und Technologie gemacht ist.
Wenn wir jedoch auf die Welt in ihrer Gesamtheit blicken, stellen wir fest, dass zahlreiche Old Cities existieren, d.h. immer überfülltere, verschmutztere und in ihrem Inneren ungleichere Städte. In diesem Sinne denke ich, dass eines der ehrgeizigsten Ziele darin besteht, die Zukunft der Städte an die nachhaltige Entwicklung zu binden, d.h. an die Agenda, die sich die internationale Gemeinschaft vorgenommen hat. Es handelt sich um ein Verzeichnis universaler Ziele und wendet sich daher sowohl an die reichen als auch an die armen Länder, an die Städte und an die ländlichen Gegenden. Eine holistische Perspektive, die Umwelt, Gesellschaft, technologische Entwicklung usw. mit einschließt und die uns einen interessanten Kompass liefert. Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, muss die Teilnahme und die Zustimmung der Menschen aktiviert werden, und in diesem Sinne wäre es daher korrekter, von Smart Citizen und nicht von Smart City zu sprechen.
Somit muss man unsere Überlegungen im Rahmen des umfangreicheren Phänomens der Urbanisierung kontextualisieren, mit Milliarden von Menschen, die weltweit in die Stadt ziehen; seit 2008 leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land, eine bestürzende und noch nie dagewesene Tatsache in der Geschichte der Menschheit. Die Herausforderung, der sich die Städte und die internationale Gemeinschaft in nächster und ferner Zukunft stellen müssen, besteht in der Planung und im Bau von städtischen Bereichen, die in Sachen Umwelt und Gesellschaft nachhaltig sind. Die Urbanisierung ist ein Merkmal der Globalisierung, aber wir müssen die Ärmel hochkrempeln, wenn wir nicht den Alptraum einer Welt erleben möchten, die aus enormen Großstädten, Slums und Barackenstädten besteht.
RF: Kann man von einer Kultur sprechen, die den „Global Cities” gemeinsam ist? Was vereint Städte wie London, Paris, San Francisco oder Tokio am stärksten? Und wodurch unterscheiden sie sich von den „periphereren“ Städten innerhalb ihres Landes?
TZ: Einerseits können wir sagen, dass es eine gemeinsame Kultur gibt, da sich die globale Wirtschaft in den Städten konzentriert und sie einander ähnlich macht: Wenn man ein Viertel von Johannesburg, Chicago oder Bogotà besucht, kann man leicht feststellen, dass die Handelsketten, wie auch die wichtigsten Marken und Büros überall die gleichen sind.
Gleichzeitig besteht die Stärke einer Stadt aber eben genau in dem, wodurch sie sich von den anderen unterscheidet. Eine Stadt, die dem globalisierten, supertechnologischen Paradigma perfekt entspricht, ist nicht besonders attraktiv, denn wer wählen kann, wo er sein Leben aufbauen möchte, wird sich auf der Grundlage von Faktoren entscheiden, die nicht nur in der „Hardware“ bestehen. Die Seele einer Stadt lebt in ihren Bars, in ihren Parks, in ihren Denkmälern und in den Gelegenheiten zur Gemeinsamkeit, die sie bietet. Aus diesem Grund entscheiden wir, uns an diesem oder einem anderen Ort niederzulassen.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist eine Visionsfähigkeit nötig, umso mehr für jüngere Städte oder Städte, die in den nächsten Jahren für rasches Wachstum bestimmt sind.
Es ist eine Vorstellung von Stadt nötig, die die Menschen mit ihren Gewohnheiten und Bestrebungen in den Mittelpunkt stellt; ein Projekt, das es versteht, die Räume „zu flicken“, um sie angenehmer und funktionaler zu gestalten, aber auch eine Seele, die die Verbreitung weiterer „toter Städte“ wie jener verhindert, deren Entstehung wir in Asien oder Afrika gesehen haben, bei der die hastige Planung (die an und für sich richtig ist) sich als unfähig herausgestellt hat, mit der menschlichen Natur Dialog zu führen.
“die Stärke einer Stadt aber eben genau in dem, wodurch sie sich von den anderen unterscheidet”
