Potsdamer Platz, Berlin - Photo by Fabio Testa on Unsplash
Welche Stadt für welche Zukunft?
Ein Blick auf die postmoderne und zeitgemäße MetropoleStädte und insbesondere Großstadtgebiete haben in diesen Jahren eine neue Protagonistenrolle übernommen. Sie sind immer komplexeren und schwer zu handhabenden Dynamiken unterworfen, sowohl was die Gesellschaft als auch was Wirtschaft und Umwelt anbelangt. Da die Großstadt ein unersetzlicher Entwicklungs- und Innovationspol ist, war sie stets durch ein breites Angebot an Potenzial und Diensten für ihre Bürger gekennzeichnet, in einem weit größeren Ausmaß als die kleineren städtischen Ballungsräume. Doch im Laufe der Zeit hat sich auch die Nachfrage verändert, die die Bürger an sie richten. Zur Handhabung der Komplexität einer Großstadt muss man sie von innen her kennen und ihre Beziehung zu denen, die sie leben, über zahlreiche unterschiedliche Standpunkte erforschen.
Zu diesen Themen haben wir Giandomenico Amendola interviewt, den ehemaligen Ordinarius für Stadtsoziologie an der Fakultät für Architektur der Universität Florenz, der vorher auch am Polytechnikum in Bari unterrichtet hat.
FLOWS-Redaktion:
Herr Professor Amendola, worin besteht der Beitrag, den unterschiedliche Berufsbilder wie Soziologen, Stadtplaner, Schriftsteller und Künstler zur Interpretation der derzeitigen Bedingungen und des Evolutionsverlaufs der zeitgemäßen Stadt leisten können?
Giandomenico Amendola:
Ich glaube, dass jeder von uns bedeutende Beiträge liefern kann, unter der Bedingung, dass man sich nicht in seinem eigenen Fachbereich verschanzt, wie dies so oft der Fall ist. Die Komplexität der Stadt kann nicht auf die Kategorien und Instrumente eines einzigen fachlichen Ansatzes reduziert werden. Oft ist ein Schriftsteller in der Lage, das zu sehen, was dem Stadtplaner entgeht.
FR: In Ihrem letzten Buch „Sguardi sulla città moderna“ (Blicke auf die moderne Stadt; Dedalo Verlag 2019) werden vier überzeugende Metaphern zitiert, um die moderne Stadt am Scheideweg zwischen 19. und 20. Jahrhundert zu beschreiben: die „Bazar-Stadt”, die „Maschinen-Stadt”, die „Dschungel-Stadt” und die „Organismus-Stadt“. Welches dieser Bilder ist in der Lage, auch die Komplexität der heutigen Metropolen wirksam zu repräsentieren und deren zukünftige Veränderungen vorwegzunehmen?
GA: Die Metapher der Organismus-Stadt wird seit über einem Jahrhundert nicht mehr verwendet. Also ab dem Zeitpunkt, an dem die – auf die Renaissance zurückgehende – Vorstellung ins Wanken geriet, dass die Stadt wie ein menschlicher Körper funktioniert, nach ganz präzisen Gesetzen, die es zu entdecken und zu beachten gilt. Von dieser Metapher ist heute praktisch nur mehr die Terminologie übrig (z.B. Verkehrskreislauf, Verkehrsarterien, usw.).
Die Vorstellung von der Maschinen-Stadt gibt es hingegen auch heute noch, auch wenn sie in beschränktem Maße beispielsweise bei der Analyse der Funktionsweise der Transporte, der Produktion und der Ausgabe von Energie sowie bei der Erzeugung von Reichtum usw. verwendet wird. Die Vorstellung von der Maschine impliziert ihre Fähigkeit, fehlerfrei zu funktionieren und die Planziele zu erreichen.
Die Vorstellung von der Bazar-Stadt ist heute in der Konsumstadt lebendiger denn je. Die Stadt selbst und die Erfahrungen, die sie erzeugt, sind Gegenstand eines gekonnt aufgebauten Angebots, um einer wachsenden Nachfrage sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene nachzukommen.
Die Metapher der Dschungel-Stadt wird heute sicher weniger verwendet als im 19. Jahrhundert; trotzdem geht heute in den Städten Angst um, die gekonnt geschürt wird, sowie ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, das nicht nur die großen Metropolen durchdringt, sondern auch die kleinen und mittleren Städte des einst so unbeschwerten Europas.
FR: In diesem Zusammenhang drängt sich eine Reflexion über die Auswirkung auf, die die Migrationsflüsse aus den Entwicklungsländern in die westlichen Metropolen auf das empfindliche Gleichgewicht unserer Stadtsysteme haben und in nächster Zukunft haben werden. Wie geht die zeitgemäße Stadt den „Culture Clash“ an (bzw. inwieweit nimmt sie ihn einfach hin)?
GA: Es ist schwierig, an einen Halt oder auch nur an eine deutliche Verlangsamung der Migrationsflüsse nach Europa zu denken. Im Übrigen genügt es, die Geburtsraten auf dem alten Kontinent mit denen in Afrika zu vergleichen, um sich über den enormen und schwer veränderbaren Abstand zwischen dem langsamen bzw. teilweise überhaupt nicht vorhandenen Bevölkerungswachstum in den europäischen Ländern und dem ultra-exponentiellen Bevölkerungsanstieg bewusst zu werden, der in den Ländern verzeichnet wird, die einst als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden. Der Culture Clash wird sicherlich Probleme bereiten, vor allem in Ländern wie Italien, die in ihrer Geschichte die Emigration der eigenen Bevölkerung erlebt haben, weswegen das in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht „Andere“ vielen noch unbekannt ist.
Man muss sich jedoch mit dem „Anderen” auseinandersetzen und in ihm eine Ressource und kein Problem oder sogar einen Feind sehen. Der kürzlich verstorbene amerikanische Gelehrte Nathan Glazer hat in den letzten Jahren den Begriff Salad Bowl (Salatschüssel) eingeführt, als Gegensatz zu der in den USA verwurzelten Vorstellung des Melting Pot, des Schmelztiegels. Während der Schmelztiegel durch die Integrationsprozesse alle Unterschiede auf ein einziges Element (das dominierende) reduziert, behält die Salatschüssel die Unterschiede aller Elemente bei, die sich in ihr befinden, und ihr Inhalt erhält seinen Geschmack eben durch diese Vielfalt. Laut Glazer muss die Stadt die Salad Bowl als Modell übernehmen, auch wenn der Übergang von der Theorie zur Praxis nicht immer einfach ist.
FR: Die industrielle Revolution hat die Grenzen zur antiken Welt gezogen und die Entstehung und Behauptung der modernen Großstädte geprägt. Worin bestehen die Auswirkungen der digitalen Verwandlung (digital disruption), die heute immer eindringlicher die Aufmerksamkeit der Forscher städtischer Phänomene fordert, auf die postmoderne und zeitgemäße Stadt?
GA: Die postmoderne oder zeitgemäße Stadt ist eine Stadt, die auf der Nachfrage gründet; sie ist nicht mehr die vorgegebene Stadt, an die sich der Bürger anpassen muss und sogar die Merkmale seiner Persönlichkeit hierzu verändert, wie sie im 19. Jahrhundert definiert wurde. Globalisierung und Desindustrialisierung haben dafür gesorgt, dass die Städt heute miteinander im Wettbewerb stehen müssen, auch indem sie sich immer wieder neu erfinden. Die Zukunft kommt nämlich nicht mehr aus der Vergangenheit wie bei der modernen Industriestadt, sondern muss auch in physischer Hinsicht auf den Ruinen der alten Fabriken aufgebaut werden. Ein Grundsatz, der in Europa weit verbreitet ist, lautet: „Die Städte, die eine Zukunft haben, sind die, die sich bereits für die Zukunft entschieden haben“.
Die Konkurrenz zwischen den Städten besteht in der Fähigkeit, vor den anderen und besser als die anderen auf die Nachfrage von Unternehmen, Familien und Besuchern zu antworten.
Im Zeichen dieser Logik ist das Problem der digitalen Revolution und der Smart City zu betrachten. Wir wohnen heute dem großen Geschäft mit den Smart Cities bei, bei dem im Namen der Innovation Programme und Ausstattungen oft ungeachtet der Bedürfnisse der jeweiligen Stadt verkauft werden. Vor ein paar Jahre veröffentlichte IBM in den wichtigsten amerikanischen Tageszeitungen eine Seite, auf der festgehalten wurde, dass eine Lösung, die für X geeignet ist, auch für andere Städte geeignet sein wird. Der Erfinder des Lasers meinte hingegen bei der Präsentation seine Erfindung: „Das ist die Antwort, jetzt liegt es an euch, die Fragen zu finden.“ Auch für die digitale Stadt muss der gleiche Grundsatz gelten: Man muss bei der Nachfrage und den spezifischen Bedürfnissen jeder Stadt beginnen und diesen eine Antwort zum Stand der Technik liefern, die – um einen Slogan des Forschungszentrums Ash Center in Harvard zu verwenden – „Better, Faster, Cheaper” sein muss.

„Skyscraper road to sky“. Hadid Tower, Citylife, Milan
Photo by Paolo Chiabrando on Unsplash
“Die Städte, die eine Zukunft haben, sind die, die sich bereits für die Zukunft entschieden haben”
FR: Welche europäischen Städte sind Ihrer Erfahrung nach am besten gerüstet, um sich den Herausforderungen der anstehenden Veränderungen im Hinblick auf neue Projekte und die Innovationstendenz vor allem auf dem Gebiet der Mobilität zu stellen?
GA: Mittlerweile ist der Großteil der europäischen Städte ein echtes Experimentierlabor. Ausgehend von den Mobilitätsproblemen, die in Verbindung mit der steigenden Umweltverschmutzung den ersten Rang in Sachen Aufmerksamkeit und Experimentierfreudigkeit einnehmen. An guten Beispielen mangelt es dabei nicht, beginnend bei den Städten Nordeuropas und bei Spanien. Und in letzter Zeit auch in Frankreich. Italien dagegen hinkt insgesamt gesehen hinterher: Mailand und Turin zeigen zwar gute Ansätze, Rom jedoch wird aufgrund des völligen Zusammenbruchs nicht nur der öffentlichen und privaten Mobilität nur mehr als ein tragisches Beispiel angesehen.
FR: Nachhaltigkeit und gemeinsame Nutzung der Entscheidungen im Rahmen des Public Engagement zählen zu den neuen Paradigmen einer Stadtplanung mit Augenmerk auf die Themen der Generationenhaftung, verstanden als „Recht auf die Stadt” der zukünftigen Generationen. Was können Sie Ingenieuren, Architekten und Stadtplanern in diesem Sinne mit auf den Weg geben? Welche Tipps haben Sie für junge Entwerfer, die heute in die Berufswelt eintreten?
GA: Das von Henri Lefebvre im Jahre 1968 begrifflich eingeführte Recht auf die Stadt war nicht nur eine experimentelle Utopie oder – mit den Worten Lefebvres – eine konkrete Utopie, sondern die Feststellung eines erneuerten Rechts auf ein anderes und besseres Leben in der Stadt, auf eine bessere Gesellschaft und eine bessere Welt. Es war eine konkrete und prozessuale Utopie. Also eine Idee, die es Tag für Tag zu erneuern und anzupassen galt, die es gestattete, die latenten Möglichkeiten in der Gegenwart zu erforschen und uns in die Zukunft zu projizieren. «Il faut penser l’impossible pour saisir tout le champ du possible.». Das Recht auf die Stadt bleibt aktuell, denn das Konzept der Gerechtigkeit oder der gerechten Stadt war stets – zumindest in rhetorischer Hinsicht – Leitprinzip für alle, die Städte planen oder verwalten. Ein immer komplexeres Recht aufgrund der Diversifizierung der Nachfragen in einer Stadt, die, eben weil sie auf der Nachfrage gründet, ihre Legitimierung in den Worten von Italo Calvino findet: „Du genießt nicht die sieben oder siebenundsiebzig Wunder einer Stadt, sondern die Antwort, die sie auf eine deiner Fragen liefert“. Die gleiche, verbreitete Leitidee der Nachhaltigkeit verweist auf die Notwendigkeit, ständig zwischen den Nachfragen zu vermitteln, auch wenn sie gegensätzlich sind, ohne dabei eine von ihnen vollkommen zu annullieren. Es gibt zahlreiche Beispiele für den Druck und das Erdrücken in der Stadt, beginnend bei der Druckwalze der Nachfrage nach Sicherheit.
Das Recht auf die Stadt ist heute wie damals ein Schrei des Bewohners und des Bürgers, die heute nach Gleichheit, Demokratie, Unterschiedlichkeit flehen; es ist stets eine Nachfrage, denn in der Stadt der Moderne enthält das Recht auf Stadt eine wachsende Anzahl an Rechten und bringt diese zum Ausdruck. Es sind die Rechte, die auch durch Kämpfe, Proteste sowie die steigenden und nicht eingehaltenen politischen Versprechen entstehen; es sind die Rechte, die wie Lefebvre voraussah, von der Praxis erzeugt werden. Diese Rechte sind – wobei die Aufzählung sicher unvollständig ist – das Recht auf Inklusion auch in räumlicher Hinsicht, auf Unterschiedlichkeit, auf Identität, auf Gesundheit, auf Freizeit, auf kulturelles Wachstum, auf Lebensraum (der über den Wohnraum hinausgeht, z.Bsp. die Nähe von Einrichtungen), auf Sozialleben, auf Schönheit. Und auch das Recht auf eine gesunde Umwelt. Das neue Bürgertum, von dem Lefevbre in einem seiner letzen Werke sprach, ist das Recht auf die Stadt der Neuankömmlinge.
Mit diesen Rechten müssen sich die Entwerfer, vor allem die jüngeren unter ihnen, auseinandersetzen. Dabei müssen sie eine kostbare Eigentümlichkeit ihres Berufs fördern, die oft vernachlässigt wird: das Zuhören.
