NET Engineering International war Partner der Forschungsarbeit des Center for Strategy and Scenario Planning der HHL Graduate School of Management in Leipzig. Die Recherchen von Kristian Kersting im Rahmen des Management-Masterkurses sollen die aktuellen Merkmale und potenziellen Marktentwicklungen von Ingenieurdienstleistungen in Italien und in Deutschland identifizieren. Im Folgenden eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchung.
Die deutsche und italienische Architektur-, Ingenieur- und Baubranche (AEC) ist durch stagnierende Produktivität und einen niedrigen Digitalisierungsgrad gekennzeichnet. Jüngste technologische Fortschritte und Marktentwicklungen stellen diesen Status Quo jedoch in Frage. Die Einschätzung, wie die Branche von diesen Veränderungen betroffen sein wird, ist daher für viele Stakeholder nicht nur von Interesse, sondern vielmehr überlebenswichtig.
Zukunftsprognosen sind nicht ohne weiteres durchführbar, da die AEC-Branche (und in diesem Zusammenhang die meisten, wenn nicht sogar alle Branchen) und ihre Marktdynamiken durch ein hohes Maß von Komplexität, Ambiguität und Volatilität gekennzeichnet sind. Die Kombination dieser drei Dimensionen ergibt tiefe Ungewissheit, welche als die Unfähigkeit des einzelnen, die Zukunft genau vorauszusagen, definiert werden kann. Diese Ungewissheit zu ignorieren oder zu unterschätzen, stellt eine wesentliche Bedrohung für den Erfolg von Unternehmen dar: sie sind gegenüber der Veränderung ihres Umfeldes unvorbereitet und ignorieren die potenziellen Wachstumschancen. Ungewissheit muss daher in jede strategische Planung einbezogen werden: Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen, wie zum Beispiel anhand der Szenario-Analysen.
Die vorliegende Untersuchung möchte die potenziellen Entwicklungsszenarien für die AEC-Branche in Deutschland und Italien bis 2025 identifizieren.
Die Forschungsarbeit basiert auf einer qualitativen und quantitativen Einschätzung von mehr als 160 internen und externen Stakeholdern. Diese umfassten Mitbewerber, Kunden, Regulierungsbehörden und Finanzinstitute. Ziel dabei war es, die Entwicklungsfaktoren ausfindig zu machen, die sich auf die zwei Märkte auswirken. Die Aggregation der Ergebnisse der Stakeholder-Umfrage resultierte in 40 Faktoren aus den Dimensionen politisch, ökonomisch, gesellschaftlich, technologisch, ökologisch und rechtlich. Die Faktoren wurden in Bezug auf die Auswirkung und den Grad an Ungewissheit auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet.

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Die bedeutenden Faktoren
Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse des Stakeholder-Feedbacks aus der AEC-Branche in Deutschland und Italien. Die Faktoren, welche im rechten oberen Quadranten positioniert sind, sind durch hochgradige Ungewissheit und starke Auswirkung auf die Branche charakterisiert.
Abbildung 1: Auswirkung-/Ungewissheit-Diagramm für die deutsche und italienische AEC-Industrie im Jahre 2025
Die kritischen Ungewissheitsfaktoren in Bezug auf die AEC-Branche in Deutschland sind:
- Vergütungsanstieg (wirtschaftlich)
- Projektakzeptanz (gesellschaftlich)
- Komplexitätsgrad der Gesetze (rechtlich)
- Digitalisierungsgrad technologisch)
- Wirtschaftliche Stabilität (wirtschaftlich)
- Entwicklung von Schlüsseltechnologien (technologisch)
- Poltische Stabilität und Wahlen (politisch)
Der gleiche Prozess wurde auf die italienische AEC-Branche angewendet. Er führte zur Identifizierung von Ungewissheitsfaktoren, die sich teils überlappen, teils unterschiedlich sind:
- Geschwindigkeit der bürokratischen und administrativen Prozesse (wirtschaftlich)
- Digitalisierungsgrad (technologisch)
- Entwicklung und Verfügbarkeit von Schlüsseltechnologien (technologisch)
- Wohlstand von Firmen und Haushalten (wirtschaftlich)
- Projektakzeptanz (gesellschaftlich)
- Attraktivität des Marktes für Investoren (wirtschaftlich)
Die Entwicklungsszenarien
Gruppiert man diese kritischen Unsicherheiten nach thematischer Nähe, ergeben sich zwei Dimensionen, die die Entwicklungsszenarien der zwei Märkte charakterisieren können: die (1) Machbarkeit der Projekte, welche durch soziopolitische und wirtschaftliche Faktoren bestimmt wird, und die (2) Digitalisierungsgeschwindigkeit der Branche, welche durch die technologischen Entwicklungen und ihre Anwendung festgelegt wird.
Die Recherchen idenfitizierten daher für jeden der zwei Märkte 4 unterschiedliche Entwicklungsszenarien im Jahre 2025:
Abbildung 2: Szenario-Entwicklungsmatrix für den deutschen und italienischen Markt im Jahre 2025
SZENARIO A: Steigerung der Machbarkeit der Projekte, hohe Digitalisierungsgeschwindigkeit
Das beste aller Szenarien, das in Deutschland durch einen echten Digitalen Boom gekennzeichnet ist. Hier haben der Weitblick des öffentlichen Sektors und der Stakeholder der Branche die Notwendigkeit langfristiger Investitionen erkannt, um auf lange Zeit Wachstum und Stabilität zu gewährleisten. Die Unternehmer aus dem Ingenieurwesen bieten entsprechenden Rückhalt, da es ihnen gelingt, den Trend zur stagnierenden Produktivität durch die progressive Digitalisierungsgeschwindigkeit zu verbessern.
Auch in Italien schafft ein Zeitraum der Stabilität mit vorteilhaften soziopolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen stabiles Wirtschaftswachstum, verbunden mit dem Ausgleich der Staatsverschuldung sowie der Steigerung der Investitionen und der Produktivität des Sektors. Mutige Reformpolitiken führen zu einer drastischen Lockerung der bürokratischen Bremse für Projekte und steigern deren gesellschaftliche Akzeptanz. Parallel dazu investieren die Unternehmer der Branche in eine radikale digitale Erneuerung. Die italienische AEC-Branche sieht einer vorteilhaften und stabilen Wachstumsperiode entgegen: eine neue Hoffnung.
SZENARIO B: Steigerung der Machbarkeit der Projekte, Stagnation des Digitalisierungsprozesses
In diesem Szenario gelingt es der AEC-Branche infolge der mangelnden Anwendung wesentlicher technologischer Innovationen nicht, den günstigen Trend in politischer/wirtschaftlicher/gesellschaftlicher Hinsicht zu nutzen: Das Szenario ist durch stagnierende Produktivität gekennzeichnet, die im Wesentlichen zu einer Baukostenerhöhung führt. Diese Situation erzeugt bei den italienischen AEC-Unternehmern ein falsches Gefühl der Sicherheit: Sie ziehen die Anwendung von Preispolitiken vor, und zwar auch über die Weitervergabe der am stärksten standardisierbaren Tätigkeiten in Niedrigpreisländern. Dadurch bleiben sie gegenüber einer möglichen Umkehr der makroökonomischen Trends verwundbar. Eine vollkommen spiegelgleiche Situation finden wir in Deutschland. Hier profitieren die Unternehmer vom erheblichen Anstieg der Nachfrage, die nicht mit einer parallelen Produktivitätssteigerung einhergeht, was zu einer allgemeinen Baukostenerhöhung führt; die AEC-Branche bleibt weiterhin fragmentiert und verliert die Garantie des festgesetzten Markthöchstpreises, die im Gehaltstarif (HOAI) bestand; eine Falle der Sorglosigkeit, die bei einer soziopolitischen und wirtschaftlichen Trendwende überaus gefährlich ist.
SZENARIO C: Rückgang der Machbarkeit der Projekte, Stagnation bzw. sogar Stillstand des Digitalisierungsprozesse
Dieses Szenario ist das schlimmste. Hier befinden sich beide Dimensionen im negativen Quadranten.
In Deutschland kommt nach dem Boom die Pleite: Die im Wesentlichen positive soziopolitische und wirtschaftliche Situation der Jahre vor 2020 ist einem Zeitraum der politischen Instabilität und wirtschaftlichen Rezession gewichen; die AEC-Branche unterliegt einem steigenden finanziellen Druck, infolgedessen die sehnlichst erwartete digitale Investition nicht mehr machbar ist. Dies führt wiederum zu einer starken Verlangsamung der Branche, und Unternehmer, die nicht in Produktivität investiert haben, versuchen die Anwendung von Preispolitiken: Weitervergabe, Zunahme der unbezahlten Überstunden, Reduzierung des Qualitätsniveaus der Projekte.
Zu einer noch radikaleren Situation kommt es in Italien, wo bereits seit Jahren Stagnation vorherrscht: die Branche verfällt in tiefe Resignation.
SZENARIO D: Rückgang der Machbarkeit der Projekte, Beschleunigung des Digitalisierungsprozesses
In diesem Szenario wirkt sich die allgemeine wirtschaftliche Rezession weniger stark auf die AEC-Branche aus, die es trotz der Schwierigkeiten verstanden hat, in technologische Innovationen zu investieren; die daraus folgende Produktivitätssteigerung wird durch einen Preiskrieg ausgeglichen, der den Markt aufgrund der stagnierenden Nachfrage charakterisiert. In dieser Situation herrscht Digitale Pleite oder zumindest Digitale Rezession, in der die AEC-Branche sowohl in Deutschland als auch in Italien stark leidet. Sie weist jedoch Merkmale auf, die einen zukünftigen Aufschwung begünstigen können.
Strategische Auswirkungen für die AEC-Unternehmer
Die Forschungsarbeit schließt mit der Identifizierung einer Auswahl an strategischen Entscheidungen der AEC-Unternehmer ab, die imstande sind, die Dimension der Machbarkeit der Projekte (wenn auch nur gering) zu beeinflussen, sowie hingegen eine gute und ausgeprägte Positionierung auf der Achse der digitalen Investition festzulegen.
Worin bestehen nun die Entscheidungen, die vernünftigerweise zu größeren Vorteilen führen?
- Investition in Produktivität, durch Erlangung einer Führungstellung bei der digitalen Investition, den neuen 3D-Laserscanner- und Wiedergabetechnologien, der standardisierten und integrierten Verwaltung (auch auf Ebene der Produktionskette Ingenieurdienste-Auftragnehmer-Kunde) von Infodatenbanken;
- Förderung organisatorischer Exzellenz, durch innovative und marketingorientierte Handhabung des Personals (Fernarbeit, flexible Arbeit usw.), die es gestattet, die besten Berufsbilder anzuziehen und beizubehalten, sowie durch den Aufbau von Partnerschaften mit erstklassigen Schulen, Universitäten, Startups und Bildungszentren. Strukturierung des Unternehmens mit dem Ziel, die Verantwortungen und Entscheidungsprozesse deutlich widerzuspiegeln, unter Beibehaltung flacher und fließender Hierarchien zugunsten der Wendigkeit und Öffnung der „Organisationssilos“;
- Steigerung der Markenerkennbarkeit, basierend auf einer “Vision”, einem Werte-Set und einem Portfolio an Kompetenzen, die untereinander kohärent sind, dank denen man sich von den Mitbewerbern unterscheidet und die Kunden und Stakeholdern über sämtliche Kontaktkanäle kommuniziert werden;
- Verbesserung der Wettbewerbsposition, indem versucht wird, mit dem vorhandenen Dienstleistungsportfolio neue Marktanteile zu erlangen, in neue Märkte einzudringen, sowie durch Diversifizierung des Portfolios über die Einführung innovativer Produkte und Dienstleistungen mit höchstem Mehrwert.
Zur Vertiefung dieser und sonstiger strategischer Optionen verweisen wir auf die Zusammenfassung der Forschungsarbeit im 2019-Special NET NEXT “Living change in challenging times”.
Die vollständige Originalfassung der Masterarbeit an der School of Management in Leipzig kann ebenfalls konsultiert werden (auf Englisch verfügbar).