- Und nun stellen Sie sich vor, dass Sie zur Gesetzesbildung beitragen
Stellen Sie sich vor, dass erfahrene Bürger wie Sie mit ihren Kenntnissen dazu beitragen können, die Inhalte und die Zweckmäßigkeit der Formulierung neuer Gesetze oder die Überwachung bestehender Gesetze anregen können, um deren Wirksamkeit zu kontrollieren. Was stimmt, ist, dass sich niemand einen Staat vorstellen kann, der durch kontinuierliche Aufrufe an die Bürger regiert wird. Es würde in einem Zusammenbruch enden. Gleichermaßen kann im Gegenteil niemand den Vorteil ignorieren, der in der Einbeziehung des Bürgers in die Gesetzesentwicklung und in der Ermutigung zur freiwilligen Beteiligung daran besteht. Heute ist es kein Traum mehr, sich die Nutzung künstlicher Intelligenz vorzustellen (wie es Großbetriebe in anderen Zusammenhängen tun), um uns zu empfehlen, an welchem Gesetzesprojekt wir uns ausgehend von unserer Erfahrung, unseren Vorlieben oder Interessen beteiligen sollten.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts geht John Locke von zwei Schüsselideen zur Legitimierung einer Regierung aus: (i) Die Zustimmung der Regierten und (ii) die Schaffung einer Mehrheit. Etwas, das drei Jahrhunderte später noch immer auf die gleiche Weise funktioniert. Auch heute noch vertritt uns das Parlament und bildet die Gesetze: Folglich würde die demokratische Legitimität nicht durch die Tatsache gemindert, dass dem Prozess der Mit-Erschaffung von Gesetzen neue Akteure hinzugefügt werden – die erfahrenen Bürger. Der Prozess würde dadurch höchstens bereichert werden.
- Was hat sich heute seit Lockes Zeit verändert? Die „Verbindung“ als Schlüsselelement beim Aufbau eines neuen Paradigmas und einige ihrer Auswirkungen.
Die Verbindung dient der Vereinigung von Dingen (Internet of Thins) und Personen (Social Media) über Technologien (Blockchain) und Instrumente (Big Data, AI), die zu Lockes oder Montesquieus Zeiten undenkbar waren, für die die Gewaltentrennung sehr gut als ein dezentralisiertes Kontroll- und Gegengewichtsystem dargestellt werden könnte, das die Blockchain-Technologie verwendet. Der technologische Faktor hat somit eine neue Architektur der Wirklichkeit geschaffen, die unsere Werte, unsere Ideen und unsere Bedürfnisse notgedrungen verändert.
Somit entsteht eine neue Quelle der Macht, die mit der Bürokratie nichts zu tun hat: Eine organisierte, intelligente und transparente Masse, die sich der Macht ohne Elite widersetzt (Brexit) und sich von der bürokratischen Macht unterscheidet. Die Elite ist umgezogen, hat Partei ergriffen und sich dezentralisiert. Die Elite hat sich mit der Masse vereint. Eine Elite, die jedoch keine sein will, da sie sich nicht auf die traditionellen Werte Erbe und Kooptation stützt – die zur Aufrechterhaltung der Macht wesentlich sind – sondern von anderen Bezugswerten wie Verdienst und Beitrag (Smart Citizens) angeleitet wird. Denken wir hierbei an eine Gruppe Wissenschaftler, die in das Genom in verschiedenen Teilen der Welt auf organisierte, intelligente und transparente Weise untersuchen.
- Was versteht man unter Crowd Law?
Crowd Law ist eine Alternative zur traditionellen Methode der Gesetzesausarbeitung durch Fachleute und Politiker (die bürokratische Elite), die hinter geschlossenen Türen arbeiten und den Willen des Volkes vertreten. Und es ist auch eine Lösung für die Krise des Vertrauens in die Politik. Im letzten Edelman-Report – edelman-trust-barometer-2018 – wurde nämlich auch Folgendes festgehalten: „Trust in Government remains very low at 36 percent and the majority feel as though their views are not represented in politics today”. Der Bürger verlangt neue Methoden, um die kollektive Intelligenz und die Erfahrung von Personen außerhalb der Wahllokale zu nutzen, einschließlich neuer Vorgangsweisen zur Verbesserung der legislativen Prozesse. Andererseits gibt es deutliche Synergien zwischen den Absichten des Crowd Law und der von der OPG, der Open Government Partnership, festgelegten Agenda, die parlamentarisch-legislative Öffnung zu fördern und innovative Lösungen auszuprobieren, um den Gesetzgebungsprozess offener und kollaborativer zu gestalten.
- Beispiele für Crowd Laws
Es gibt verschiedene interessante Beispiele für die Anwendung von Crowd Law: (i) Mi Senado: Die kolumbianischen Staatsbürger können bei Plenarsitzungen des Parlaments in Echtzeit reagieren und abstimmen, sowie Push-Benachrichtigungen erhalten, um zu erfahren, wann die Plenarsitzungen einberufen werden, damit sie daran teilnehmen können; (ii) Parlement et Citoyens: Diese Plattform gestattet es der französischen Öffentlichkeit, über einen Online-Konsultationsprozess Anregungen für Gesetzgebungsmaßnahmen vorzulegen; (iii) vTaiwan: Diese Initiative leitet das Crowd Law über ein System, mit dem die Bürger die sozialen Netzwerke nutzen, um Anregungen zu übermitteln und die vorgeschlagenen Politiken zu qualifizieren, wie zum Beispiel die Regulierung von Uber.
- Legal Design als Schlüssel zum Crowd Law.
Wenn die Beteiligung auf die richtige Art und Weise geplant wird, kann sie die Legitimität und Wirksamkeit des Gesetzgebungsprozesses verbessern. Wenn die Beteiligungsprozesse hingegen geplant werden, ohne die Bedürfnisse der Bürger und der parlamentarischen Einrichtungen zu berücksichtigen, dann wird dies zur Erzeugung von Abneigung führen.
- Die „Kontaktstellen” verändern sich
Zur Beteiligung einladen, wenn die Gesetzesnormen bereits niedergeschrieben wurden, reicht nicht aus. Es müssen Prozesse aktiviert werden, über die der Bürger mit seiner Erfahrung vor der Abfassung des Gesetzes (vorher) und während der Ausführungsphase des Gesetzes (nachher) beitragen kann, das heißt wenn dessen Anwendung auf wirksame Weise beginnt. Es geht darum ein proaktives und interaktives Modell wertbringend einzusetzen, als Alternative für ein reaktives und nicht iteratives System. Sehen wir uns ein paar Beispiele an:
A) Vorher:
In Finnland gestattet es das Gesetz zur Bürgerinitative den einzelnen Bürgern, neue Gesetze vorzuschlagen; die Europäische Union wendet ihr eigenes Gesetz über die Bürgerbeteiligung an; in Spanien legt Artikel 133 von Gesetz Nr. 39/2015 fest, dass vor der Vorbereitung eines Gesetzesentwurfs oder einer Regelung eine öffentliche Konsultation über das Web-Portal der zuständigen Verwaltung durchgeführt werden muss, anlässlich der die Meinung der repräsentativsten Personen und Organisationen eingeholt wird, die potenziell von der zukünftigen Rechtsnorm betroffen sind, und zwar zu Folgendem: (I) Problemen, die mit der Initiative gelöst werden müssen; (II) worin die Möglichkeiten bestehen, die sich durch deren Verabschiedung eröffnen würden; (III) die Zielen der Rechtsnorm; (IV) die möglichen alternativen Lösungen, seien es nun Vorschriften oder nicht.
B) Nachher:
Ein interessantes Beispiel ist der „Evidence and Fact Check”, der vom Parlament des Vereinigten Königreichs verwendet wird und dazu einlädt, Beweise zu politischen Vorschlägen in Bezug auf Themen zu liefern, die von selbstfahrenden Autos bis zu den Smart Cities gehen, und zwar über Fragen wie diese: „Has the Government shown that the implementation method for the policy has been based on evidence on what works?”
C) „Debat Public“ als kollektiver Gesetzanwendungsprozess
Unterstrichen werden soll an dieser Stelle, dass die Region Toskana dem Regionalgesetz Nr. 69/2007 Folge geleistet hat, dem ersten Gesetz in Italien in Sachen Beteiligung, und zwar über das Regionalgesetz Nr. 46/2013 zur „Öffentlichen Debatte und Förderung der Beteiligung an der Ausarbeitung der regionalen und lokalen Politiken“, das die öffentliche Debatte regelt, die als „Informationsprozess sowie Prozess der öffentlichen Konfrontation und Beteiligung“ verstanden wird und beispielsweise für alle öffentlichen Bauten Pflicht ist, die den Grenzwert von fünfzig Millionen Euro überschreiten.
Artikel 22 des gesetzesvertretenden Dekrets vom 18. April 2016 (Kodex der öffentlichen Verträge) besagt, dass bei großen infrastrukturellen Bauwerken mit erheblicher Auswirkung auf Umwelt, Städte und Raumordnung (…) die Pflicht besteht, auf das Verfahren der öffentlichen Debatte zurückzugreifen. Am Freitag, den 24. August 2018, trat der Erlass des Ministerpräsidenten Nr. 76/2018 in Kraft, der überdies die Überwachungsmodalitäten für die Anwendung des Rechtsinstituts der öffentlichen Debatte vorschreibt. Der Erlass kommt auf Bauwerke zur Anwendung, die erhebliche Investitionen erfordern. Beispielsweise Bauten, die eine Trassenlänge von mehr als 15 km nach sich ziehen und deren Investitionen eine Höhe aufweisen, die in Bezug auf die gesamten vorgesehenen Verträge gleich oder höher als 500 Millionen Euro abzüglich MwSt ist. Diese Vorschriften zeigen, dass Italien die Implementierung des „débat public” fortsetzt.
- Das Gesetz verwandelt sich in eine Dienstleistung
Die Erklärung „wir haben 100 Gesetze verabschiedet” reicht nicht aus, da die wesentliche Frage nämlich lautet: Funktionieren sie? Mit anderen Worten, das Gesetz nicht nur als Mittel sondern auch als Zweck. Wenn ein Gesetz zum Beispiel mit dem Zweck verabschiedet wurde, die Umweltverschmutzung zu verringern, sollten Schlüsselindikatoren zur Messung existieren, ob das Gesetz seinen Zweck erreicht hat oder nicht.
- Agile + Crowdlaw
Vor der Einführung von „Agile” konnte es sein, dass eine Firma, die eine neue Software ausarbeiten wollte, zwei Jahre für die Entwicklung eines linearen Projekts benötigte. Wenn das Projekt dann endlich ans Tageslicht kam, bemerkte man normalerweise, dass es die jüngsten technischen Entwicklungen oder die Spezifikationen nicht enthielt, die für den Endbenutzer von wesentlicher Bedeutung sein konnten. Und was tat man dann? Man konnte „Flicken“ anbringen oder beschließen, noch einmal von vorne anzufangen. Dasselbe geschieht bei der Ausarbeitung eines Gesetzes, die einen langen und wenig wirksamen Weg mit sich bringen kann. Daher ist die Festlegung neuer Touchpoints vonnöten, die in der Lage sind, die Erfahrung und das Feedback der Bürger zu jedem Zeitpunkt des Prozesses zu sammeln, auf freier und freiwilliger Basis. Außerdem sind transversale, multidisziplinäre Teams erforderlich, die fähig sind, die erfahrene Zivilgesellschaft mit dem bürokratischen System zu vereinen.
- Crowdlaw um 360 Grad
Untersucht man das Crowd Law vom Gesichtspunkt des Staates und der Zivilgesellschaft aus, versteht man die Notwendigkeit der Kenntnisnahme, dass neben dem Staat zahlreiche andere Machtzentren tätig sind: die Firmen. Das Crowd Law wird auch dazu dienen, nicht nur demokratischere sondern auch effizientere Firmen zu schaffen, mit einem höheren Niveau an Engagement und Einsatz seitens der Beschäftigten und mit einer positiven Auswirkung auf das Image, das die Firma nach außen hin vermitteln will. Auch die Normen und Politiken der Firmen können gemeinsam geschaffen werden. In jedem Unternehmen gibt es Platz, und zwar auch ziemlich viel, für kollektive Intelligenz. Die zwei großen hierarchischen Machtblöcke (top down), die Großunternehmen und die öffentliche Verwaltung können sich dem Druck der Kräfte, die von unten kommen (bottom up) nicht lange widersetzen. Crow Law ist ein Ziel, das nicht nur wünschenswert und möglich ist, sondern auch weitgehend unaufhaltsam.