Illustration von Giacomo Bagnara
Der Wert unkonventioneller Planungsansätze
Systemische Visionen, Wissensaustausch und Resilienz(Interview von Mauro Panigo)
Im Februar und März 2018 beherbergte Contemporary Urban – das von Mauro Panigo und Alberto Zavatta gegründete Kreativ-Labor für Architektur, Landscape und Design – die kulturelle Schau Shaping The Unconventional: Zeugnisse von Vertretern aus Kultur und Gesellschaft, die imstande sind, die Vorgangsweisen und Verhaltensweisen, das Arbeiten und Wohnen in urbanen Bereichen und Städten durch postmoderne und unkonventionelle Ansätze zu inspirieren und zu orientieren. Vierzehn Persönlichkeiten aus der Welt der Architektur und des Ingenieurwesens, aus Finanz und Kultur, Forschung und Kommunikation haben mit dem Publikum ihre Ansicht zu einem provokatorischen Thema geteilt: Inwieweit kann „Unkonventionalität“ ein differenzierender Faktor und Erzeuger neuer Territorien für Denken und Handeln sein?
Im Folgenden das Interview von Mauro Panigo mit Stefano Susani, dem Geschäftsführer von NET Engineering. Im Mittelpunkt des Dialogs stehen die Themen Mobilität der Zukunft, Sharing Mobility und nachhaltiges Transportwesen.
Das Interview schließt mit einer Reflexion zu einem neuen und alternativen Ansatz ab, der die Planung von Infrastrukturen auf systemische Weise betrachtet und die Resilienz zu einem seiner Leitgrundsätze macht.
M. Panigo: Stefano, es freut mich, dich hier bei Contemporary Urban anlässlich von Shaping The Unconventional zu treffen. Was bedeutet es heutzutage, an der Spitze einer Gruppe zu stehen, die Mobilitätsprojekte entwirft und verwirklicht, bei denen Umwelt und Gebiet integriert werden? Worin bestehen die neuen Entwicklungsmodelle für den Transport, die zur Erneuerung unserer Gesellschaft, unserer Gebiete und unserer Städte imstande sind?
S. Susani: Die Veränderung, die derzeit bei der Mobilität vonstatten geht, ist wirklich radikal. Man spricht von mobility ecosystem, weil es nicht mehr einfach um eine Industrie oder einen technologischen Bereich geht, sondern um ein Ökosystem, in dem unsere Art zu leben, zu produzieren und zu interagieren enthalten ist. Die Veränderungen haben rund um einige spezielle Elemente stattgefunden. Das erste und für alle sichtbare Element ist die Digitalisierung: Der Benutzer ist zum Mittelpunkt der Mobilität geworden und das macht einen großen Unterschied, denn vorher wurde der Benutzer transportiert, jetzt hingegen entscheidet er, wohin es gehen soll. Es handelt sich um einen erheblichen Unterschied, der durch die digitale Technologie, die Benutzung von Smartphones und Plattformen ermöglicht wurde, die die Annäherung des Passagiers an die Reiseerfahrung verändert haben. Es gab aber auch eine bedeutende Veränderung in technologischer Hinsicht, weil nun nicht mehr nur von Mobilität in allgemeiner Hinsicht die Rede ist. Beispielsweise die Technologie, die die Art und Weise, wie Autos gelenkt werden, verändert. Die immer stärkere Integration, die zwischen Straße und Schiene bestehen muss – zwei anscheinend banale Begriffe, hinter denen jedoch zwei vollkommen unterschiedliche Transportmanagementsysteme stehen – erzeugt interessante Verwandlungen auch in Italien: Hier kam es in allen Regionen zu einer Revolution der Vorschriften, die die Mobilitätsagenturen in den Mittelpunkt der Integration zwischen Straße und Schiene gerückt hat.
Man denke nur daran, welche Veränderungen derzeit in der Ferrovie dello Stato-Gruppe, den italienischen Staatsbahnen, vor sich gehen, die derzeit das gesamte Mobilitätssystem integriert. Genau das ist nötig.
MP: Contemporary Urban ist eine multidisziplinäre Plattform, die heterogene Fachleute und Weltanschauungen vereint, integriert und versucht, Kompetenzen-Netzwerke und –Sharing zu schaffen. Auf welche Art konfrontieren sich die Welt der Systemtechnik für Infrastrukturen und die Forschungsmethodologie von NET Engineering mit einem Ansatz, der den Austausch von „Wissen“ und „Können“ in den Mittelpunkt stellt?
SS: Im Laufe der letzten zwei Jahre haben wir in unsere Vorgangsweise bei der Planung, bei der Erzeugung des Projekts und beim Vorschlag des Projekts gegenüber dem Kunden eine Revolution eingeführt, die die Verwendung des mittlerweile bekannten BIM, des Building Information Modeling, vorsieht. Wir wenden einen Ansatz an, der der letzten philosophischen Interpretation des BIM entspricht, die dieses Hilfsmittel nicht nur als dreidimensionale Zeichnung, sondern als einen Informationsverwaltungsprozess auslegt, der bei der Gestaltung der Infrastruktur beginnt und beim Asset-Management endet. Die Verwaltung der Informationen erfolgt daher ab dem Zeitpunkt, zu dem man die Infrastruktur plant und konzipiert, da man mit der Sammlung all jener Elemente beginnt, die auch zur Verwaltung und Wartung sowie zur eventuellen Umgestaltung erforderlich sind, wenn die Infrastruktur nach 50 oder 60 Jahren – am Ende ihres Lebenszyklus‘ – neu erdacht werden muss. Das BIM dient daher nicht nur zum Zeichnen, sondern es bedeutet, dass man dem Kunden zusammen mit dem Projekt einen idealen Server übergibt, der alle Informationen zur Infrastruktur enthält.
Auf der anderen Seite haben wir uns Einordnungssysteme wie Envision zu eigen gemacht, das vor ein paar Jahren von der Universität Harvard ins Leben gerufen wurde. Es handelt sich dabei um eine Art ganzheitliche Einordnung des Projekts, die uns zwingt, alle disziplinären Komponenten im Ganzen zu sehen, und dort, wo wir nicht alleine tätig sein können, gehen wir Partnerschaften ein. Das hat unsere Annäherungsweise an die Projekte verändert.
MP: Mit deinem Expertenteam beschäftigst du dich mit langsamer Mobilität, Green Mobility und Transportmittel-Sharing. Von deinem privilegierten Beobachtungspunkt aus: Wie können Energie, Umwelt, städtischer Transport und Massentransport deiner Meinung nach heute einen konfliktfreien Dialog finden?
SS: Dieses Thema ist der Schlüssel zu Evolution des Infrastrukturprojekts und damit ein wesentlicher Aspekt. Denn es macht keinen Sinn mehr, das Projekt für eine Infrastruktur anzusehen, ohne dabei an die Flüsse zu denken, die dahinterstecken: Die Infrastruktur wird vom Benutzer überwunden, der sie verwendet, und wenn man sie als einen Fluss betrachtet, dann muss man sie als einen Fluss von Energie, Personen und nachhaltiger Integration mit dem Gebiet ansehen. Das Wort Nachhaltigkeit wurde viele Jahre lang unsachgemäß behandelt und missbraucht, es ist jedoch ein tiefgehendes Konzept, das zur Vereinigung und Integration der drei Dimensionen Gemeinschaftssinn, Wirtschaft und Umwelt zwingt. Vom operativen Standpunkt aus gibt es heute Hilfsmittel, die uns zwingen, das Projekt unter dem Gesichtspunkt des Energieverbrauchs und des Einsatzes der Ressourcen zu sehen, und sie zwingen uns, uns mit dem Mangel an diesen Ressourcen wie Boden oder Wasser auseinanderzusetzen und somit Lösungen vorzuschlagen, die versuchen, diesen Konflikt zu beheben.
MP: Wird der neue Kurs von NET Engineering International „unkonventionelle” Ansätze und Modalitäten umfassen? Mit anderen Worten: Worin besteht deine Vision und worin besteht die Vision des Unternehmens in Sachen „Shaping the Unconventional“?
SS: Die Möglichkeit, die Dinge auf systemischer Ebene und nicht im Einzelnen zu betrachten, macht den Unterschied zwischen einem Projekt und einer kleinen Analyse aus. Was ich bei Contemporary Urban wiederfinde ist die Ambition, den systemischen Aspekt des Projekts zu betrachten und nicht nur den architektonischen oder partikularistischen Aspekt, und das ist von grundlegender Wichtigkeit. Wir haben uns in der letzten Zeit ein Konzept zu eigen gemacht, das Resilienz heißt und wesentliche Bedeutung erlangt hat. Es bedeutet, auf das Ökosystem zu blicken und zu dem Zeitpunkt, an dem man es mit dem Bau neuer Infrastrukturen verändert, zu versuchen, seine Reaktionsfähigkeit auf unvorhergesehene Ereignisse zu garantieren.
Ein klassisches Beispiel, das hierzu oft gemacht wird, ist das Erdbeben. Wenn ein Erdbeben einen nicht resilienten Kontext betrifft, führt es zu einer Zerstörung, die nur schwer behoben werden kann. Wenn ein Erdbeben Gebiete oder Länder betrifft, die sich auf andere Weise organisiert haben, wie zum Beispiel Japan, dann ist die Auswirkung erheblich geringer.
Wie kann man aber diese Resilienz erreichen? Resilienz entsteht dann, wenn man auf multisystemische Weise denkt, d.h., wenn man die Dinge mit zwei unterschiedlichen Maßstäben betrachtet. Ich muss an meinen Kontext denken, indem ich ihn mit einem größeren und mit einem kleineren Maßstab betrachte und die beiden zusammenarbeiten lasse; es bedeutet, die Unterschiedlichkeit, die den Ökosystemen typischerweise innewohnt, zu fördern, indem zahlreiche Ansätze und Gesichtspunkte begünstigt werden; es bedeutet auch Intermodalität, denn ein resilienter Ansatz vereint alle Systeme anstatt an jedem einzelnen von ihnen zu arbeiten. Und dann gefällt mir auch der Aspekte der polyzentrischen Governance sehr gut, ein Ansatz, der Teams mit vielen unterschiedlichen Kompetenzzentren vorsieht, die sich auf flexible und kreative Weise Projekt für Projekt neu zusammenstellen. Das ist Resilienz.
