Riad, die Hauptstadt des Königreichs Saudi-Arabien, hat ihren Ursprung in einer Oase inmitten weiter Wüstenlandschaft. Erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts begann ihre Entwicklung, die dann aber in rasanter Geschwindigkeit vom „Mittelalter in die Moderne“ führte. Die Einwohnerzahl explodierte von unter 100.000 auf 5,2 Mio. in 2010. Die Zehn-Millionen-Schwelle soll bereits in den nächsten zehn Jahren erreicht werden.
Heute präsentiert sich Riad als dynamische Metropole mit großem Selbstbewusstsein. Die Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte orientierte sich stark am Modell der amerikanischen Stadt mit einer schachbrettartigen, weit in die Fläche greifenden Siedlungsstruktur und vielstreifigen, leistungsfähigen Straßenachsen. Die Mobilität der Bevölkerung basiert fast vollständig auf dem Pkw. Öffentlichen Verkehr (ÖPNV) in unserem Verständnis gab es nicht. Einige Buslinien, primär auf stadtverbindenden Relationen, reine Schulbus- und Werksverkehre, insbesondere für die ausländischen Arbeitskräfte, prägen das Bild. Auf einigen Hauptachsen gibt es scheinbar unorganisierte Fahrten mit überalterten Kleinbussen, ohne jeden Fahrplan oder systematischer Flächenbedienung.
Ende des 20. Jahrhunderts erkannte die zuständige Behörde (Arriyadh Development Authority, ADA), dass dieser Entwicklungspfad nicht zukunftsfähig ist und erarbeitete mit der „Metropolitan Development Strategy for Arriyadh (MEDSTAR)“ 1997 (Fortschreibung 2004) einen breit angelegten Ansatz für die Zukunft von Riad, in der für das Verkehrswesen erstmals klare Vorgaben für einen modernen öffentlichen Verkehr formuliert sind. Hierfür wurde anschließend mit dem „Comprehensive Public Transport Plan“ eine Grundkonzeption entwickelt. Diese sieht ein hierarchisches ÖPNV-System vor, basierend auf einem leistungsstarken schienenbasierten Kernnetz, verdichtet mit Korridoren eines Bus Rapid Transit (BRT) und ergänzt um ein die städtischen Hauptachsen bedienendes, konventionelles Busliniennetz und lokale, flächenerschließende Kleinbusverkehre (Feeder).
Nach Jahrzehnten, in denen man sich ausschließlich auf den Individualverkehr als Transportmittel fokussierte, wurden internationale Planungsteams von der zuständigen Behörde für Stadtentwicklung parallel mit der Planung von Metro und einem umfassenden Bus System beauftragt.
Europäische Planer waren gefordert, die Grundzüge der ÖPNV-Organisation, eine Bedarfsanalyse, die Angebotsplanung für die Infrastrukturen zu beschreiben. Außerdem mussten die Anforderungsprofile für Fahrzeuge und die gesamte technische Ausrüstung formuliert sowie ein Tarifsystem erarbeitet werden. Weiterhin wurde der Kunde beraten und operativ dabei unterstützt, in welchen Schritten das gesamte System implementiert und wie die Ausschreibungen strukturiert werden sollen.
Die arabische Herausforderung
Die Herausforderungen für ein solches Projekt wären auch in Europa schon vielfältig. In einem arabischen Land müssen Berater und Planer aus Mitteleuropa selbstkritisch agieren, um die eigenen Grundsätze und Erfahrungen nicht unreflektiert in die arabische Gesellschaft zu kopieren. Es gilt, Besonderheiten zu erkennen und bei der Übertragung des modernen ÖPNV-Ansatzes zu berücksichtigen.
Planer für ein ÖPNV-System in Riad stehen beispielsweise vor dem Problem, dass es vor Ort keine Erfahrung mit modernem ÖPNV gibt und entsprechend auch keine gewachsenen Behördenstrukturen oder spezifischen Verfahren zur Planung, Genehmigung, Finanzierung und Betrieb existieren. Damit bekommt die Anforderung, den Akteuren ein Verständnis davon zu vermitteln, was ÖPNV im Einzelnen bedeutet, einen sehr großen Stellenwert. Die fehlenden institutionellen Strukturen, all das, was in Europa von Aufgabenträgern, Verkehrsverbünden und Genehmigungsbehörden geleistet wird, um im Zusammenspiel mit den Verkehrsunternehmen einen wirtschaftlichen, sicheren und attraktiven ÖPNV zu gewährleisten, hat in Riad kein Pendant. Entsprechend intensiv wurden mit den Auftraggebern viele Workshops über die Verteilung von Rollen und Verantwortung durchgeführt.
Hinzu kommt, dass das arabische Business auf wirtschaftlich „autarke“ Kontrakte zielt. Im Falle eines ÖPNV führt das zu separatem Betrieb von Bus und Metro, ggf. sogar einzelner Linien und damit zur Notwendigkeit, jeweils einen neuen Fahrschein zu lösen. Dies steht komplett im Widerspruch zu unserem Verständnis vom ÖPNV aus einem Guss mit attraktiven Verbindungen von Haus-zu-Haus, koordinierten Fahrplänen, betreiberneutralen Auskunftssystem und übergreifendem Fahrkartenvertrieb.
Eine weitere Herausforderung sind die Entscheidungswege vor Ort. In diesem fremden Kulturraum, der schon durch die Sprachbarriere teilweise verschlossen bleibt, ist es manchmal gar nicht, oft erst nachträglich nachzuvollziehen, welche Personen mit Argumenten zu überzeugen sind, um eine Entscheidung zu erreichen. Oft genug arbeitet man auf Basis von Entscheidungen und Freigaben, die später „von oben“ infrage gestellt und ohne weitere Einwirkungsmöglichkeit revidiert werden.
Die Einsicht in die Notwendigkeit des ÖPNV ist – wenig überraschend – mit der Überlastung des Straßennetzes gewachsen. Entsprechend bieten die Straßen aber auch kaum noch Raum für Bussonderspuren, die für einen leistungsfähigen BRT unerlässlich sind. In einem der späteren Planungsschritte wurden in intensiver Detailarbeit Lösungen gefunden, um im Straßenraum für den Verkehrsfluss verträgliche Sonderspuren zugunsten der BRT-Linien einzuordnen und an besonders kritischen Stellen Alternativen für den Kfz-Verkehr zu realisieren. Ebenso akribisch wurden die Haltestellenstandorte so festgelegt, dass einerseits stark frequentierte Einrichtungen gut erreichbar sind, andererseits verfügbare Flächen gegeben und für die Fahrgäste sicher erreichbar sind.
Als dann die Lage der Haltestellen feststand, erwartete die Planer eine weitere Besonderheit. Der öffentliche Raum vor einem Haus ist kein öffentliches Eigentum, sondern gehört dem jeweiligen Hausbesitzer. Das bedeutet, der Raum für die Infrastruktur einer Haltestelle (klimatisiertes Warteraum, Passagierinformationssystem) muss mit tausenden von Privatpersonen verhandelt und erworben werden. Ziel muss es also sein, die Haltestellendichte so gering wie möglich zu halten. Allerdings ist es in einer extrem heißen Stadt wie Riad, in der es sowieso keine Fußgängerkultur gibt, ein Grund mehr, doch das Auto zu benutzen. In der einheimischen Bevölkerung ist die Pkw-Nutzung tief verwurzelt und der eigene Pkw wird noch stärker als in Europa als Statussymbol gesehen.
Dieses Statusdenken erfordert ein modernes innovatives Image für das neue Verkehrsmittel. Daraus resultieren besondere Design-Ansprüche an Fahrzeuge, spektakuläre Architektur für zentrale Stationen und hohe funktionale Anforderungen, z. B klimatisierte Haltestellen. Um dieses Image in die Gesellschaft zu transportieren und die Saudis vom ÖPNV zu überzeugen, wird extrem viel Wert auf Marketing gelegt.
Eine für einen Europäer fremde Anforderung ist damit verbunden, dass es im islamisch geprägten Riad nicht selbstverständlich ist, dass allein reisende Frauen auf fremde Männer treffen. Oft dürfen Frauen sowieso nur in Begleitung eines Verwandten oder des Ehemannes reisen. So gab es einen langen Diskussionsprozess, ob im Wartebereich der Haltestellen und in den Bussen und Bahnen selbst getrennte Bereiche für Männer und Frauen bzw. Familien geben muss. Die Entscheidung war überraschenderweise, die übliche Trennung NICHT umzusetzen. So könnte der ÖPNV zum kulturellen Türöffner für eine Situation werden, die im inoffiziellen Raum für immer mehr Frauen bereits Realität ist. Auch wenn Frauen ab 2018 per Gesetz einen Führerschein machen dürfen, wird es weiterhin viele Frauen geben, die mit einem umfangreichen und sicheren öffentlichen Transportwesen mehr Freiheiten bekommen.
Die Realisierung der Metro wurde als erstes in Angriff genommen, die der Infrastruktur des Bussystems folgte zeitversetzt. Die Betreiber der Metronetze und des Bussystems wurden inzwischen durch internationale Ausschreibungen ausgewählt, die Fahrzeuge werden bereits gebaut. Die konkrete Realisierung ist also in vollem Gang. In den verbleibenden zwei Jahren ist noch sehr viel zu tun – dem arabischen Durchsetzungswillen und der großen Finanzkraft ist diese Leistung zuzutrauen.
Bus und Metro sollen bereits 2019 gemeinsam in Betrieb gehen. Aktuell ist dies weltweit das größte ÖPNV-Projekt mit 176 Km Metro- und 1.200 Km Busnetz.