Die Lehre von den Flüssen hat große Achtung gegenüber den Dämmen, denn sie versteht es, deren Bedeutung zu erkennen: es sind letztere, die ersteren das Fließen ermöglichen. Im menschlichen Körper liefert das Blut den lebenswichtigen Organen einen unerlässlichen Beitrag, und zwar nur dank des Netzwerks an Blutgefäßen, die es leiten. Andererseits verunsichert uns ein ausgetrocknetes Flussbett zutiefst, da es den Anschein hat, dass der Damm in Ermangelung des entsprechenden Flusses seiner Kraft entblößt und vollkommen sinnlos ist. Damm und Fluss gehören zueinander: es ist unmöglich, sich den einen ohne den anderen vorzustellen.
Und wenn ein Fluss seine Dämme überströmt (egal, ob es sich um den materiellen Fluss eines ungestümen Wasserlaufs oder die immaterielle Welle eines zwanghaften Gedankens handelt), um zu einer unkontrollierbaren Umgebung vorzudringen, werden wir von der Angst bestürmt, dass es zu einem schlimmen Ende kommen wird, denn es hat sofort den Anschein, als ob sich der Fluss in ein nur undeutlich definierbares und damit gefährliches Etwas verwandeln könnte. Um dem menschlichen Leben eine geeignete Fluktuation zu verleihen, müssen die Flüsse innerhalb ihrer Dämme fließen.
Und ausgehend vom Bewusstsein um diese Zusammengehörigkeit baut der Mensch seit jeher Dämme für das Werden. Eine Schicht nach der anderen, die Strukturen ordnen die Flüsse und zähmen sie, indem sie ihnen den Anschein von Stabilität bieten. Hierzu dient eine Unternehmensorganisation: Der quirligen, ungeordneten und damit unproduktiven Vitalität, die jeder Mitarbeiter in den Dienst eines Unternehmens ohne Organisation stellen würde, einen ganz präzisen Damm zu bieten.
Was geschieht, wenn sich die Organisationsschichten nicht darauf beschränken, die menschliche Überschwänglichkeit einzudämmen, sondern zu deren Haupthindernis werden? Die Unterbrechung der Flüsse ist unvermeidbar.
Und das ist eine treffende Beschreibung von Bürokratie: Eine Struktur, die dazu gedacht ist, den geordneten Verlauf der Flüsse zu begünstigen, die jedoch verkalkt und jedwedes Fließen verhindert.
David Graeber (London School of Economics) schreibt in seinem Buch, das er unlängst zu diesem Thema verfasst hat:
Eine ängstliche und bürokratische Geisteshaltung hat jeden Aspekt des intellektuellen Lebens durchdrungen. Im Großteil der Fälle ist sie in eine Sprache eingehüllt, die Kreativität, Initiative und Unternehmungslust betont. Die bürokratische Kenntnis ist eine Frage der Schematisierung. Die Einleitung eines bürokratischen Verfahrens bedeutet unvermeidlich Unkenntnis der leichten Nuancen der reellen sozialen Existenz und Reduzierung aller Belange auf vorgefertigte mechanische oder statistische Formeln.
Auf der gleichen Linie: Dämme, die die Flüsse austrocknen. Die Verbreitung ausgetrockneter Dämme hat eine kollektive Reaktion hervorgerufen, die bis jetzt noch ungeordnet, aber bereits erkennbar ist. Es handelt sich um ein Phänomen der sozialen Innovation, das auf die Wiederherstellung des Verlaufs der Flüsse durch eine Neudimensionierung der bürokratischen Beschränkungen abzielt.
Ich habe dieses Phänomen Rucksackkratie getauft, da es von Personen beseelt ist, denen außer dem Hass auf die bürokratischen Systeme die Leidenschaft für Bewegung, Leichtigkeit und Frugalität gemeinsam ist, fluktuierende Bürger, die der Macht der Bürokratie jene der Rucksackkratie vorziehen (ein erster Überblick in italienischer Sprache über die Rucksackkratie (zainocrazia) ist verschiedenen Artikeln in Affari Italiani, Changes, WOW Magazine und TGCOM24, den Interviews im Radiosender Radio24 und in den Fernsehnachrichten TG5, sowie in einigen, auf LinkedIn veröffentlichten Texten zu entnehmen).
Und wenn die Bürokultur Dämme baut, dann begünstigt die Rucksackkratie den Verlauf der Flüsse: Die Projektkultur hat die Möglichkeit, ihre Rolle in jedem menschlichen Bereich zu stärken, indem sie sich von ersterer befreit und sich an letztere annähert. An dieser Stelle können nur überblicksmäßige Argumente dargelegt werden, und es kann lediglich auf die zwei Hauptmerkmale der Rucksackkratie bei der Anwendung auf die Projekttätigkeit hingewiesen werden.
VUKA ist nicht nur ein erfolgreiches Kürzel
Volatilität, Unvorhersehbarkeit, Komplexität, Ambiguität: Da sich die Welt, in der wir leben, immer häufiger den allzu klaren Dämmen entzieht, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Handlungen an den Kontext anzupassen. Den Kürzeren zieht dabei vor allem die traditionelle Auffassung von Kompetenz, jenes Wissen, das – wenn man es einmal erlangt hat – für immer im beruflichen Werkzeugkasten bleibt und dort bereit liegt, um bei jeder Gelegenheit erneut verwendet zu werden. In der VUKA-Welt erlangt die Inkompetenz großen Wert, d.h. die Bereitschaft und Verfügbarkeit, unvorhergesehene Lösungen angesichts unerwarteter Probleme auszuprobieren. Der antibürokratische Entwerfer erklärt sich für inkompetent, weil er sich nicht auf das Problem konzentriert, sondern seinen Blick auf den größeren Kontext erweitert, in dem es zu dem Problem gekommen ist, um die Ursachen auszumachen und zu lösen, anstatt sich auf die Behebung der Auswirkungen zu beschränken.
Werden ist besser als sein
Die Bürokratie liebt die Geraden, denn sie stellen die logischste Strecke zwischen zwei Punkten dar und unterstützen die Hierarchien auf optimale Weise. Doch das Vorherrschen einer spezifischen Ordnung – die der Geraden – gegenüber den unendlich vielen möglichen Ordnungen, macht viele Potenziale der Flüsse zunichte, zu deren Nutzung die Natur die Welt mit Linien übersät hat, die keine Geraden sind. Organisationen, die für ihr Funktionieren einzig und allein auf Organigramme zurückgreifen (rechteckige, hierarchische, genaue, vorhersehbare Felder), erzeugen fortlaufend Kategorien, die den Personen unveränderbare Wesenszüge auferlegen (dieser Kollege ist kreativ, dieser junge Mann ist ein Talent, der Chef ist aggressiv) und sie daran hindern, sich zu verwandeln bzw. sich an die veränderlichen Bedingungen des Kontexts anzupassen.
Die Rucksackkratie begünstigt die Erforschung der verschiedenen Arten des Werdens und betrachtet die Wesenszüge als provisorische Etiketten, die man nach Gebrauch wegwirft.
Die Lehre von den Flüssen wird von den Vertretern der Rucksackkratie enorm begünstigt. Sie helfen den Entwerfern dabei, die schlimmsten Aspekte der Bürokratie – Unbeweglichkeit, Ablehnung der Komplexität, Unterdrückung des Innovationsgeistes – zu Gunsten der Recherche, der gemeinsamen Nutzung und der Veränderung zu neutralisieren.
Dem Thema „Rucksackkratie” wurde ein Buch gewidmet, das in Kürze vom Verlag LSWR herausgegeben wird.