Der Mittelpunkt einer Erzählung ist normalerweise ein Fakt bzw. mehr als einer, oder zumindest eine Beziehung zwischen Ereignissen und Personen. Vom fiktiven Werk, sei es ein Roman, ein Film oder ein Theaterstück, verlangen wir, dass es uns sofort mitteilt, wer im Rampenlicht steht und unmittelbar danach, was diese Person macht oder diese Personen machen. Und dann kaskadenartig möchten wir das Wie und das Warum wissen. Durch den Erwerb dieser Informationen werden wir immer anspruchsvoller, je weiter wir mit der Lektüre vorankommen, und zwar in dem Ausmaß, in dem es uns der Autor gestattet und erzählt. Wir wollen alles wissen oder besser gesagt, alles, was wir brauchen, um die Ungläubigkeit zu unterbrechen und uns in die Geschichte hineinzuversetzen. Wo sich die Handlungen ereignen und wann.
Und vor allem bei der Lektüre moderner erzählender Literatur sind wir daran gewöhnt, bereits ab den ersten Zeilen zu erfahren, wer uns durch die Geschichte führen wird: nicht so sehr die Erzählstimme (die wir auf jeden Fall treffen), sondern die echten und eigentlichen Protagonisten.
Hier ist der junge Holden in Fleisch, Blut und Gedanken:
Wenn ihr wirklich Lust habt, diese Geschichte zu hören, dann wollt ihr vielleicht vor allem wissen, wo ich geboren wurde und wie meine abscheuliche Kindheit war und was meine Eltern und Angehörigen machten, bevor ich auf die Welt kam, und all das Gefasel à la David Copperfield, aber ich habe nicht die geringste Lust, darüber zu sprechen.
Sehr selten, um nicht zu sagen nie, beginnt ein moderner Roman seine Erzählung mit der seitenlangen Beschreibung einer landschaftlichen Umgebung. Wenn der Umgebung Gewicht verliehen wird, und das ist eher bei den Klassikern als in der modernen Literatur von Autoren (und für Leser) der Fall, die an das Kino gewöhnt sind und sich angesichts einer minutiösen Beschreibung langweilen würden, dann handelt es sich normalerweise um eine Fotografie des Himmels, eine Andeutung der Form einiger Pflanzen und höchstens um die Details eines Raumes.
Im Allgemeinen schenkt die erzählende Literatur der Erzählung des Gebiets kein Gehör, jenem Komplex aus Natur und Objekten, die dem menschlichen Geist entsprungen sind, inmitten derer wir uns ständig befinden und unser Leben abläuft. Es gibt jedoch einen Roman, der vor knapp mehr als einem Monat vom Verlagshaus Feltrinelli in Italien und ursprünglich in Japan im Jahre 2007 veröffentlicht wurde, und der so beginnt:
Die Staatsstraße 263 verbindet die Städte Fukuoka und Saga und verläuft über etwa achtundvierzig Kilometer von Norden nach Süden durch die gebirgige Gegend Sefuri und über den Mitsuse-Bergpass.
Dieser Beginn erinnert an das Incipit von Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić (1945, erste deutsch eAusgabe 1953). Erzählt wird darin vom Verlauf eines Flusses durch das umliegende Gebiet und von der Brücke, die über ihn führt, während es in unserem Buch um einen Straßenverlauf geht:
Sie beginnt in Fukuoka, auf der Höhe der Kreuzung in Arae im Bezirk Sawara. […] Ab dieser Stelle führt die Staatsstraße 263, die hier auch als Gemeindestraße von Sawara bezeichnet wird, nach Süden. […] Nachdem man an diese Stelle gelangt ist, beginnt die Straße, die vorher eben verläuft, ihren schrittweisen Anstieg, und auf der Höhe des Suga-Heiligtums zieht sie eine breite Rechtskurve, während die Häuser an ihrer Seite nach und nach weniger werden und man den Mitsuse-Bergpass nach oben fährt, angeleitet vom frischen Asphalt und den weißen Leitschienen. […] Durch den Tunnel führt eine Mautstraße, die auch als die „Straße des Echos” bezeichnet wird und die gebaut wurde, um die Staus auf ein Mindestmaß zu reduzieren, zu denen es im Winter wegen der engen Kurven und des rasch ansteigenden Verlaufs der Passstraße kommt. Die Bauarbeiten begannen 1979 und wurden sieben Jahre danach im Jahre 1986 abgeschlossen.
Das ist das Incipit des Romans Der Mann, der mich töten wollte des Japaners Yoshida Shūichi. Die Erzählung handelt vom Verschwinden eines Mädchens, und die Beschreibung des Bergpasses, der Geografie der Straßenverläufe, die sich „wie Blutgefäße unter der Haut“ aneinander annähern und überschneiden, nimmt die ersten drei Seiten voll und ganz ein. Warum?
Neben den geografischen, beinahe schon ingenieurtechnischen Informationen erzählt uns der Autor vom Aberglauben, der jene Orte umhüllt, obwohl sie das Ergebnis eines menschlichen Projekts sind: Der Mitsuse-Bergpass steht seit jeher im Mittelpunkt mysteriöser Geschichten.
In dieser Erzählung ist die Straße ganz offensichtlich ein Element, das lebt. Das pulsiert. Sie setzt der Kraft des Übernatürlichen die Rationalität der menschlichen Prozesse entgegen, mit denen der Mensch das Gebiet beherrscht. Aus der anscheinend aseptischen Beschreibung des Incipit erahnt man, dass genau an diesen Orten etwas passieren wird. Und es passiert auch tatsächlich etwas.
Eine der möglichen Interpretationen ist die, dass die Straße hier die Entscheidung symbolisiert.
Der Reisende kann entscheiden, ob er den Bergpass hochklettern oder die schnelle Mautstraße benutzen möchte, die durch einen Tunnel führt. Und der Erzähler erklärt, dass nur wenige die Alternative durch die Berge der Autobahn vorziehen. Kurz danach erzählt er uns jedoch über die Gedanken eines Barbiers, der aus dem Schaufenster seines Geschäfts blickt, dass die Pendler dort in der Nähe nur um der Ersparnis willen bereit sind, den Zug zu nehmen, der weniger kostet, jedoch zum Zurücklegen der gleichen Strecke länger braucht. Er nimmt sogar eine Rechnung vor: Wenn die Entscheidung darin besteht, 16 Minuten oder 720 Yen einzusparen, dann ist ein Menschenleben durchschnittlich 1 Milliarde und 600.000 Yen wert. Auf dem Mitsuse-Bergpass hingegen nein, und dorthin fahren nur wenige: sie zahlen lieber.
Wie dies oft in literarischen Werken der Fall ist, ist die Entscheidung, die der zweifache Wegverlauf symbolisiert, eine Metapher für die Entscheidung über das Leben. Es gibt zwei Straßen, vielleicht zwei Männer, die in die kriminelle Tat verwickelt sind, ein zweifaches Leben des getöteten Mädchens, das seinen Freundinnen und den Eltern ihre nächtlichen Treffen verheimlichte. Das Auto, das auf der Straße dahinrast und genau dort auf diesem Bergpass anhält, ist wie die Tatwaffe, und die Flucht erfolgt zu Fuß, noch einmal über diese Straßen.
Die Straße ist in der allgemeinen Vorstellung seit jeher ein Ort der Gefahren, des Treffens, der Vereinigung, der Möglichkeiten und normalerweise ist sie ein archetypischer Ort. Der Ingenieur hingegen ist bei ihrer Planung, so wie bei der Planung aller anderen Manufakte dazu berufen, ihre strukturellen, ästhetischen, funktionalen Aspekte sowie die Aspekte der Nutzbarkeit zu erdenken, und doch ist das Ergebnis seiner Tätigkeit in gewissem Maße ebenfalls eine Erzählung und ganz sicher das greifbare Zeugnis einer Kultur.
Wenn dann ein Schriftsteller ein ingenieurtechnisches Werk zu einer Erzählung macht, gibt er dem Werk jene Gesamtheit zurück, die aus der Nicht-Unterscheidung zwischen den Anwendungsgebieten herrührt. Der Wirtschaftswissenschaftler und Erzähler Yoshida Shūichi materialisiert die Straße zwischen Fukuoka und Saga wie ein Ingenieur, er formt sie in seiner realen Dimension und ebenfalls wie ein Ingenieur – der sich bei der Planung eines Bauwerks dieses für die Menschen vorstellt, die es nutzen werden – verleiht er ihr mit seiner Erzählung eine menschliche Dimension.